Warum ist der TATORT „Reifezeugnis“ eigentlich zur Legende geworden?
Christian Granderath: Mit Reifezeugnis in den Siebzigern und Schimanski Anfang der Achtziger sind, wenn man es plakativ formuliert, sexuelle Revolution und Revolte ein Stückchen auch im Fernsehen, in der Fiktion, angekommen. Reifezeugnis war damals Tages- und Schulhofgespräch, das hat sich über Jahre gehalten. Vor allem natürlich wegen Nastassja Kinski, die damit zu einer erotischen Ikone geworden ist. Es gab noch Ingrid Steeger und Klimbim, das waren Comedy-Serien und Filme, bei denen man das Gefühl hatte, da landet etwas im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, was sich schon im Alltag bewegt hatte, aber auf der Mattscheibe noch nicht erkennbar war.
Sie selbst waren damals 17 Jahre alt - haben Sie "Reifezeugnis" bei der Erstausstrahlung gesehen?
Christian Granderath: Ja, klar – daran erinnere ich mich noch sehr gut. Das war für uns eine ungeheuerliche Geschichte, weil eine Schülerin mit ihrem Lehrer ein Verhältnis hatte. Vielleicht, weil es bei uns am Gymnasium auch solche Verhältnisse gab. Ob es einen Derrick oder einen Kommissar zu diesem Thema gab, weiß ich gar nicht, aber wenn, dann ist der heute vergessen. Der Drehbuchautor Herbert Lichtenfeld, Wolfgang Petersen, Judy Winter und Christian Quadflieg, die Dramaturgie und die Regie haben natürlich einen wichtigen Anteil am Mythos um den Film. Für Christian Quadflieg haben ja auch viele Mädchen geschwärmt. Aber Nastassja Kinski war die, die den Unterschied und den Film zu einem Klassiker gemacht hat.
Ihr Bild hing lange in vielen Jungen-Zimmern. Sie wirkte wie eine erotische Offenbarung. Das gibt es vermutlich in dieser Form heute nicht mehr, nicht in der Wirklichkeit und nicht im Fernsehen, weil fast alle Tabus gefallen sind. Ein Kritiker hat vor kurzem geschrieben, Reifezeugnis sei eine Art von Übersetzung des Schulmädchenreports in einen öffentlich-rechtlichen Fernseh-Film. Das sehe ich überhaupt nicht so. Es gibt natürlich eine Verbindung zum Film Die Reifeprüfung (The Graduate) von 1968. Und wohl auch für die Macher damals, denn wenn die den TATORT in Anlehnung an den Film mit Dustin Hoffman Reifezeugnis nennen – der hatte ja auch schon Wellen geschlagen – dann hatte das sicher mehr miteinander zu tun….