600 mal TATORT
Fernsehserien und -reihen haben ihre Zeit,in der sie entstehen,
in der sie populär werden und in der sie vergehen.Überzeitlich
sind sie nur selten. Sie bleiben der Zeit verhaftet, in
der oder für die sie geschrieben und inszeniert wurden.Reihen
haben es da grundsätzlich noch schwerer als Serien.Da
sie weniger auf Kontinuität von Personen und Biografien
angelegt sind,entfalten sie für Zuschauer wie Produzenten,
Schauspieler oder Regisseure weniger Bindungsenergie und
verglühen so oft noch schneller als langlaufende Serien.
Um so auffälliger der Erfolg des TATORT der ARD. Die Krimireihe
existiert seit nun mehr fast 35 Jahren, genauer seit
dem 29. November 1970. Seitdem lädt ein unverändert gebliebener
Vorspann, der immer noch von der Musik Klaus
Doldingers untermalt wird, zu einem neunzigminütigen
Krimiabend ein.Auch der Termin ist gleich geblieben.Sonntagabend
ist die Zeit des TATORT. Schlecht für die Konkurrenz,
die zu diesem attraktiven Termin schon alles mögliche
unternommen hat, das Publikum vom Ersten fortzulocken.
Aber ob Shows,neue Spielfilme,deutsche Serien oder Hochglanzschmalz
? sie alle mussten erleben,dass das Publikum
seinem TATORT treu bleibt. Ja erstaunlicher noch, mit neuen
weiblichen Kommissaren wie Charlotte Lindholm (Maria
Furtwängler) oder Charlotte Sänger (Andrea Sawatzki) gelang
es der Reihe, weitere Zuschauer, vermutlich in der
Mehrheit Zuschauerinnen hinzuzugewinnen. Durchschnittlich
an die acht Millionen Bundesbürger schalten
sich zu jeder neuen Folge ein. Exzellente Werte für den harten
Wettbewerb auf dem engen deutschen Fernsehmarkt.
Aber dem quantitativen steht der qualitative Erfolg nicht
nach. Der Grimme-Preis,der Jahrzehnte Serien ? und Krimis
vor allem ? ignorierte, hat nach einer Verjüngung seiner
Jurys den TATORT für sich entdeckt.Jedes Jahr finden sich eine,
wenn nicht mehrere Folgen unter den Nominierungen
im Fiktions-Bereich. Ebenso regelmäßig werden sie ausgezeichnet
? in diesem Jahr die Folge ?Herzversagen? vom
Hessischen Rundfunk. Die Qualität der Reihe erweist sich
auch dadurch, dass die einzelnen Folgen aufmerksam von
der Presse in Vorkritiken und in den rar gewordenen Nachkritiken
gewürdigt werden. Anders als noch zu Beginn wird
akribisch verfolgt,wie sich die Kommissare entwickeln,welche
Autoren und Regisseure welche Filme beisteuern, wer neue Akzente in einem Genre setzt, das angeblich als ausgereizt
gilt.
Dieser Text stammt aus der Jubiläumsbroschüre der ARD zum 600.ten TATORT von 2005 |
Denn wenn es eine weitere Überraschung zu konzedieren
gilt, dann ist es die, dass sich der TATORT wie kaum eine andere
Reihe permanent erneuert. Das beginnt bei den Ermittlern.
Hier herrscht heute eine größere Vielfalt vor als
noch vor zwanzig oder gar dreißig Jahren. Neben den klassischen
Protagonisten, der als Einzelgänger gilt und seine
Fälle eher intuitiv löst,sind nicht nur die beliebten Duos getreten,
die sich in der Sache ergänzen und als Partner in einer
Art beruflicher Hass-Liebe miteinander verbunden sind,
sondern auch so etwas wie Teams,in denen die Pathologen,
die Fahnder, die Staatsanwälte eine wachsende Rolle spielen.
Hinzukommt, dass kaum noch Schauspieler Berührungsängste
vor einer festen Rolle im TATORT kennen.So
finden sich unter den Kommissaren eine bekannte Bühnenschauspielerin
wie Eva Mattes, ein längst etablierter Serienstar
wie Robert Atzorn oder eine Kinogröße wie Axel
Prahl.
Die permanente Erneuerung zeigt sich auch bei den Regisseuren.
Galt Anfang der siebziger Jahre das Krimi-Genre als
so konventionell,dass sich viele Regisseure des neuen deutschen
Films dem TATORT versagten, ist es heute für die junge
Generation, zu der Regisseure wie Hannu Salonen, Züli
Aladag oder Jobst Oetzmann gehören, eine große Ehre, eine
oder mehrere Folgen zu inszenieren.Das führt dazu,dass
fast jede ästhetische Krimi-Variation, die das aktuelle Kinoangebot
vor allem aus den USA präsentiert,für das deutsche
Fernsehen adaptiert wird. In der Summe ergibt das eine
enorme stilistische Bandbreite,zu der komödiantische Varianten
ebenso dazugehören wie dokumentarisch angehauchte,
actionbasierte oder thrillerähnliche.Überraschend
kehrt dann ein anderer Film zur klassischen Form zurück, in
der die Suche und das Rätsel des Täters im Vordergrund
steht oder in der ein gesamtes Ensemble in Verdacht steht,
die Tat begangen zu haben. Und selbst der thematisch angehauchte
Krimi,der über seine Handlung ein gesellschaftliches
Problem benennen oder auf es aufmerksam machen
will, ist nicht endgültig verschwunden. Er feiert fröhlich
mehrere Male im Jahr seine Wiedergeburt im Ersten.
Es sei eingestanden, dass nicht alle diese, vor allem die
modischen Genre-Varianten etwas taugen. Manchmal verheben
sich die Teams in ihrem Anspruch, großes Kino mit
den Mitteln des Fernsehfilms produzieren zu wollen. Mitunter
retten die besten Pointen eine krude zusammengehauene
Geschichte nicht. Gelegentlich scheint selbst der
Regisseur den Überblick verloren zu haben,warum nun wer
die Tat begangen hat. Und nicht jede Besetzung, jede Figur,
jeder Autor oder Regisseur kann mit dem Krimi-Genre etwas
auf Dauer anfangen.Doch der Reihe selbst hat das nicht geschadet.
Vielleicht bedarf es ja auch gerade der durchschnittlichen
Filme, damit die besten herausragen können,
ob sie nun aus Kiel vom Norddeutschen Rundfunk,aus Köln
vom Westdeutschen Rundfunk oder aus München vom
Bayerischen Rundfunk kommen.
Die Basis der Qualität wie der Kontinuität des TATORT
scheint in seinem föderalen System zu liegen. Die Idee, die
Gunter Witte vom WDR Ende der sechziger Jahre hatte,nicht
eine Landesrundunkanstalt mit der Produktion der zukünftigen
ARD-Krimireihe zu beauftragen,sondern gleich alle an
ihr zu beteiligen, trägt bis heute. Sie führt zu einem produktiven
Wettbewerb zwischen den ARD-Anstalten, ja, sie
hat sogar zu einem Wettbewerb innerhalb einzelner Redaktionen
geführt. Denn die großen Sender wie der SWR,
der NDR oder der WDR schicken schon seit längerem nicht
nur ein Duo auf Recherche, sondern gleich mehrere, die um
Aufmerksamkeit und Anerkennung kämpfen. Auch das hat
der Reihe gut getan. Es sind nicht mehr allein die großen
Städte, in denen ermittelt wird, sondern auch die ländlichen
Bezirke am Bodensee, an der Ostsee oder in Niedersachsen.
Das schärft den Blick dafür, dass die Bundesrepublik nicht
nur aus den Großstädten besteht und dass man diese nicht
immer in den selben Filmbildern zeigen muss. Und sie erlaubt
nebenbei die Erkenntnis, dass das reale wie das erfundene
Verbrechen überall seinen Platz findet.Der TATORT
ist dabei einer weiteren Idee seines Erfinders Witte treu geblieben.
Die Filme erzählen realistisch aus und von der Gegenwart.
So spiegelt sich in den 600 Folgen,die von der ARD
seit 1970 ausgestrahlt wurden, die Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland auf besondere Weise. Hier wird etwas von den gesellschaftlichen Ängsten festgehalten, die sich
im erfundenen Verbrechen zeigen. Hier wird von Zeit zu Zeit
deutlich, was die Gesellschaft von ihren Strafverfolgungsbehörden
und ihrer Justiz hält. Hier blitzt gelegentlich etwas
von den atavistischen Gelüsten nach Rache und Genugtuung
auf, die vom zivilisatorischen Mantel einer verregelten
Rechtssprechung normalerweise diszipliniert oder
verdeckt wird.
Kein Wunder, dass einzelne Filme die Zuschauer oder eine
interessierte Öffentlichkeit provoziert haben.Ausgelöst von
Darstellungen, in denen eine Landschaft, eine Region oder
eine Stadt nicht so vorkam, wie es sich die Bewohner oder
ihre Repräsentanten vorstellten.Initiiert von Gewaltbildern,
die sich nicht so leicht vergessen ließen, weil sie mit grellen
Schockmomenten arbeiteten oder ? schlimmer noch ? weil
ihre Leerstellen die Phantasie der Zuschauer strapazierten.
Irritiert durch Geschichten, in denen der erzählte Fall nicht
mit der Verhaftung des Täters zu Ende ging, sondern nach
Filmende in den Gedanken der Betrachter fortlebte. Angestoßen
durch Erzählungen,die eine alltägliche Gewalt durch
die filmische Zuspitzung zum gesellschaftlichen Gespräch
erhob.
Auch diese Diskussionen und Debatten hat der TATORT
mühelos, so scheint es, bis heute überstanden. Auch sie
kann man als das Zeugnis seiner Vitalität deuten, der auch
die vielen Wiederholungen im Ersten wie in den Dritten Programmen
bis heute nichts anhaben kann. Angesichts des
großen Fundus kann hier jede neue Zuschauergeneration
ihre Entdeckungen machen, ob es um bekannte Schauspielerinnen
und Schauspieler geht,die hier ihre ersten Meriten
erwarben, oder um Regisseure, die ihren Weg hier begannen.
Als Resozialisierungsinstitution funktioniert der TATORT
jedenfalls bestens.Viele Darsteller von Ermittlern hatten
ihre Karriere zuvor als Täter begonnen.
Dietrich Leder
Professor an der Kunsthochschule für Medien, Köln
|