Kassensturz
Abschachteln und Umwälzen - Ein Discounter im TATORT
Interview mit Regisseur Lars Montag
Während der Drehzeit von "Kassensturz" im Frühjahr 2008 wurden die Praktiken
bekannt, mit denen die Discounter-Kette Lidl ihre MitarbeiterInnen ausspionierte. Der
TATORT erscheint fast wie der Film zum Skandal. Wann haben Sie davon erfahren?
Kopper und Odenthal ermitteln im Discounter, Bild: SWR/ Krause-Burberg |
Es war tatsächlich verrückt. Unmittelbar vor Drehbeginn brach der Skandal los. Und
zwar genau mit den Elementen, die wir vorher recherchiert, mit den Schauspielern
durchgesprochen und geprobt hatten. Das war wirklich verblüffend. Manche im
Umkreis der Produktion waren vorher ein wenig skeptisch gewesen, ob es nicht etwas
übertrieben sei, was wir in dem Film erzählen. Und dann gab?s den großen Lidl-
Skandal und alles erwies sich als noch schlimmer. Wir haben dann das Buch noch
schnell aktualisiert und die Kameraüberwachung mit hinein genommen. Nur in ein
paar Nebensätzen, aber immerhin.
Die Arbeitsbedingungen in einem Discounter spielen eine große Rolle im TATORT "Kassensturz". Wie haben Sie recherchiert?
Stephan Falk, der das Buch entwickelte, hat eine Menge Vorarbeit in der Recherche
geleistet. Bei meiner Überarbeitung habe ich dann sehr intensiv mit Gebietsleitern
einer großen deutschen Discounterkette gesprochen, die mir von ihrem Alltag
erzählten. Also mit den vermeintlich Bösen, die aber auch nur Rädchen im Getriebe
sind. Die haben mir davon erzählt, unter welchem Druck sie stehen, warum so etwas
wie Taschenkontrollen wirklich nötig ist, und was ihre Kollegen sich teilweise für
Übergriffe leisten. Wenn unsere Figur Novak mit der Sprühflasche wirft, ist das etwas,
was es definitiv schon gegeben hat. In der Regel greifen diese Gebietsleiter ins Obstund
Gemüseregal, weil die Sachen nicht kaputt gehen, keine Körperverletzung hervorrufen, aber ordentlich wehtun und billig sind. Und wenn es Flecken gibt, müssen
die Verkäuferinnen sie auch noch daheim herauswaschen, weil die ihre Kleidung
selbst in Ordnung halten müssen.
Im Auftrag von Billy beobachtet Detektiv Kampmüller heimlich die Mitarbeiter, Bild: SWR/ Krause-Burberg |
Ich war auch mit Ver.di in Verbindung, von denen es das Schwarzbuch Lidl gibt und
die mir einen Kontakt zu mehreren Kassiererinnen gemacht haben. So speist sich zum
Beispiel die Szene, in der die Figur Dullenkopf gezwungen wird, selbst zu kündigen,
aus Protokollen solcher ?Scheinprozesse?. Grundsätzlich ist alles, was in dem Film in
der Discounterwelt passiert, so oder so ähnlich in der Realität nachweisbar. Sicherlich
nicht alles in einer einzigen Filiale, wir haben natürlich verschiedene Vorkommnisse,
die z. B. im Schwarzbuch Lidl notiert sind, zusammengezogen und verdichtet. Aber
alles hat so stattgefunden, oft sogar noch heftiger.
Gab es auch Unterstützung bei den Dreharbeiten?
Für den Dreh leisteten wir uns eine Fachberatung, eine Filialleiterin aus dem
süddeutschen Raum, die mir im Vorfeld ihre Geschichten erzählte, das Drehbuch las
und während der Drehtage im Discounter immer dabei war. Sie war auch diejenige,
die mit den Schauspielern das Arbeiten im Discounter übte. Denn nichts ist
schwieriger für einen Schauspieler als alltägliche Arbeit darzustellen, während man die
Figur spielt und Texte spricht. Es muss ja so aussehen, als hätte man nie etwas
anderes gemacht, und trotzdem muss man völlig frei sein, diese automatisierten
Handlungen dann noch spielerisch variieren zu können. Deshalb haben die
Schauspieler vor Drehbeginn zwei Abende in einer Filiale gearbeitet. Die wussten, wie
man Kartons aufschneidet, was abschachteln oder umwälzen bedeutet; all die
absurden Begriffe, die es in dem Bereich gibt.
Und hat dann die Dreharbeiten sozusagen überwacht?
Ja. Sie hat uns z. B. oft gesagt, dass der Ton zu freundlich ist, weil die Vorgesetzten
nicht so freundlich mit den Angestellten reden. Oder dass wir die Komparsen mehr auf
Abstand stellen sollten, weil die Vorgesetzten sich in Anwesenheit von Kunden
zurückhalten. Sie erklärte auch den Schauspielerinnen, wie wichtig effizientes Arbeiten
ist. Z. B. geht eine Angestellte nie mit leeren Händen durch die Filiale. Als Regisseur
sagt man: "Pack doch ein paar Kartons dahin, und dann gehst du halt wieder zurück."
Aber wenn man von einem Ort zum anderen geht, ohne dass es etwas zu tragen gibt,
wird wenigstens noch den Pfandautomaten geleert und der Sack zurückgebracht.
Der hohe Kostendruck verursacht diese Arbeitsbedingungen?
Ja. Da ist unser Film übrigens nicht korrekt, in einer Filiale dieser Größe würden
gleichzeitig nur eine, maximal zwei Angestellte arbeiten. Die Effizienz im Discounter
besteht ja bereits darin, dass der Kunde sich das Produkt selbst aus dem Karton
nimmt. Oder nicht drei oder zehn Senfsorten findet, sondern nur eine. Auch der Kunde
soll sich ja nicht lange aufhalten, sondern muss schnell durchgeschleust werden.
Mario und Lena wollen von Gisela Dullenkopf wissen, warum sie nicht mehr bei Billy arbeitet, Bild: SWR/ Krause-Burberg |
Hat es auch Spaß gemacht, diese Arbeitswelt herzustellen?
Ich mag es ja immer besonders, eine geschlossene Welt zu kreieren. Bei meinem
ersten Lena-Odenthal-TATORT "Sterben für die Erben" war es ein Hotel, in dem ein
Kammerspiel stattfand. Hier war es die Discounterwelt. Mal in den Betriebsräumen
dieser Filialen zu sitzen, sich hinter den Kulissen umzuschauen und das dann
einzurichten. Die ganzen Schilder z. B., die im Film im Keller hängen: "Mein Gehalt
zahlt der Kunde", oder "So sieht mich der Kunde" über dem Spiegel, sind keineswegs
fiktiv, war haben die alle in den unterschiedlichen Discountern gesehen.
Der gelb-lila Billy-Discount scheint mit viel Lust an der Hässlichkeit erfunden.
Das Problem war erst mal, überhaupt im Discountermilieu drehen zu können. Das
scheint ja ganz einfach, Discounter gibt?s an jeder Ecke. Aber natürlich gehen bei
einem realistisch-kritischen Umgang mit dem Thema alle Türen zu. Wir mussten uns
also von dem Gedanken, am Wochenende in einer existierenden Filiale zu drehen,
verabschieden. Aus dem Nichts ein Discounter-Motiv aus dem Boden zu stampfen, ist
allerdings nicht einfach. Man braucht ja nicht nur den Laden und das Logo, sondern
auch die ganze Waren, die darin sind, einschließlich der verderblichen. Wir hatten
dann das Glück, in Karlsruhe ein leerstehendes Ladenlokal zu finden, das wir
einrichteten.
Das Sortiment wurde dann auf geschickte Art von der Produktionsleitung
zusammengemietet. Lediglich die verderblichen Sachen wurden gekauft, alles andere
wieder zurückgegeben. Nur so war es möglich, im Rahmen des Budgets einen Laden
von dieser Größe als Drehort herzustellen. Damit es auch in den Augen unserer
Fachberatung echt aussah, wurden die Ladeneinrichtung ebenso wie die Kostüme
extra verschlissen. Überall gehen die Nähte auf, wegen der Kanten der Kartons, oder
die Taschen sind ausgerissen und fleckig. Schließlich war es so echt, dass in den
Drehpausen Kunden hereinkamen und um die Einkaufskörbe zu füllen.
Es kann nicht ganz einfach gewesen sein, zwischen all den Regalen zu filmen?
Wir konnten uns das ja so einrichten, wie wir es brauchten. Grundsätzlich war es
natürlich schwierig, ein optisches Konzept für diese sehr alltägliche Umgebung zu
finden, es sollte ja nicht langweilig werden. Conny Wiederhold und ich waren uns
schnell einig, dass wir mit extrem weiten Brennweiten arbeiten wollten. Denn den
Raum kennt jeder, deshalb wollten wir uns ganz auf die Schauspieler konzentrieren.
Jan Henrik Stahlberg als Gebietsleiter Günter Novak, Bild: SWR/ Krause-Burberg |
Jan Hendrik Stahlberg als Gebietsleiter Novak ist geeignet, Aggressionen in uns
wachzurufen ...
Die Gebietsleiter sind letztlich genauso arme Schweine wie die anderen. Die stehen
extrem unter Druck, müssen in mehreren Filialen nachts noch Spätkontrollen
durchführen, teilweise frühmorgens bei Anlieferungen wieder da sein etc. Die sind
auch am Rande der Leistungsfähigkeit. Mit dem Schauspieler Jan Henrik Stahlberg
haben wir im übrigen etwas Ähnliches gemacht. Er wollte mir eigentlich für die Rolle
absagen, wegen eines parallelen Projekts und seiner familiären Verpflichtungen. Weil
ich ihn unbedingt haben wollte, erklärte ich ihm, dass diese Gebietsleiter völlig
übernächtigt und total fertig sind. Und dann haben wir die Vereinbarung getroffen,
dass er den Text nur anlernen müsste und morgens mit dem ersten Flieger aus Berlin
kommen könnte, ob er geschlafen hatte oder nicht. Dann direkt ans Set und abends
wieder in den Flieger, so dass er am nächsten Morgen seinen Sohn in den
Kindergarten bringen konnte. Und so war es dann auch.
Wir haben bei diesem Film,
wie schon bei "Sterben für die Erben" wieder ohne Maske gearbeitet. Morgens gab es
für die Schauspieler eine Gesichtsmassage, und das war?s dann. Die Augenringe bei
Jan Henrik Stahlberg sind also nicht geschminkt. Der stieg morgens aus dem SWR-Wagen,
hat gebietsleitermäßig um sich gebissen und wurde dann wieder
weggefahren. Es ging so weit, dass Traute Hoess beim Drehen richtig Aggressionen
bekam, wenn sie als Filialleiterin immer so runtergeputzt wurde. Dabei schafft er es
trotzdem, der Rolle noch ein Plus zu geben, so dass einem gleichzeitig bewusst wird,
dass auch Novak unter Druck steht. Und dass die Figur das Ganze mit einer gewissen
Lust macht, ist wiederum das Armseligste, was man sich denken kann. Den Worten,
mit denen man die Leute fertig macht, noch Lust abzugewinnen, ist wirklich armselig.
Und all das zusammen ist der Weg, den wir mit der Figur gehen wollten.
Die Figur der Chefin wiederum war ursprünglich ein Mann. In den
Besetzungsgesprächen haben wir uns dann überlegt, dass es für Lena Odenthal
schöner ist, eine Gegnerin zu haben, so dass zwei Frauen sich auf Augenhöhe
begegnen. Das ist auch Ulrike Folkerts besonders gut gelungen, finde ich. Diese Frau
Fuchs provoziert ja ganz ungemein, und Lena lässt sich nicht provozieren. Sie ist sehr
souverän, und das gefällt mir gut.
Genau wie wir stehen Lena Odenthal und Kopper dem Discounterwesen manchmal
fassungslos gegenüber.
Gesine Fuchs macht Druck bei den Mitarbeitern. Eigene Meinungen und Widerworte sind bei Billy nicht gefragt, Bild: SWR/ Krause-Burberg |
Perspektivisch ist der Film ja weitgehend so erzählt, dass man die Discounterwelt mit
der Kommissarin ergründet. Nach der ersten Begegnung mit Frau Fuchs, in der klar
wird, dass es da nur um die Zahlen geht und niemand um den Toten trauert, müssen
Lena und Kopper dieses ganze System vor sich ausbreiten, um zu verstehen, was
passiert ist. Wir haben bewusst versucht, die Kommissare aus dieser Diskussion
rauszuhalten, sie verhandeln also nicht die Frage von gut oder böse im Discounter. Ich
wollte das Thema nicht auf der Oberfläche des Films zwischen Lena und Kopper
abhandeln, sondern finde es richtiger, wenn die Zuschauer sich selbst Gedanken über
das Thema machen und erkennen, dass man Farbe bekennen muss.
Insofern bin ich
gespannt auf die Reaktionen der Zuschauer. Natürlich ändert ein Film nicht das
System, und viele Leute sind aus Kostengründen darauf angewiesen, im Discounter
einzukaufen. Aber der TATORT wird doch von ein paar Millionen Zuschauern gesehen
und führt das System Discounter, glaube ich, noch mal plastischer vor Augen als zum
Beispiel eine gedruckte Reportage. Deshalb habe ich mich auch sehr gefreut, als mir
das Projekt angeboten wurde.
Es war Ihre zweite Arbeit mit Ulrike Folkerts als Lena Odenthal. Hat sich die Figur seit
"Sterben für die Erben" verändert?
Ich finde, dass die Odenthal-TATORTe sich gerade sehr gut entwickeln. Die Filme sind
momentan sehr unterschiedlich, thematisch sehr speziell und kantig, und auch wie
Ulrike die Figur anlegt, sie erwachsener sein lässt, gefällt mir sehr gut. Es ist ja das
Wunderbare an dieser Figur, dass man viele verschiedene Facetten in den
Geschichten ausprobieren kann. Und je weniger kantig Lena Odenthal selbst ist, desto
spezieller und kantiger können die Geschichten werden.
SWR-Pressemappe
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