Reise in ein lange vergangenes Jahrzehnt
Wieder einmal ist es bewiesen: Der TATORT am Sonntagabend im Ersten ist einer der wenigen verbliebenen regelmäßigen Sendeplätze, der noch Mut und Innovation zulässt. Viele der Macher hinter den Kulissen, ob nun Regisseure, Autoren oder andere, genießen ihre Arbeit für die ARD-Krimireihe, bietet sie doch die Möglichkeit, im Gewand des Krimigenres innovativ zu sein, eine Spur mutiger als anderswo. Nicht immer glücken diese Unternehmungen, doch in diesem Fall führen inhaltliche und stilistische Experimente zu einem herausragenden Ergebnis. Der TATORT: Der oide Depp? gehört sicher zu den besten der vergangenen Monate, wenn nicht Jahre. Regie führte der Münchner Grimme-Preisträger Michael Gutmann, der zuletzt vielfach mit Hans-Christian Schmid als Coautor zusammengearbeitet hat.
Rückblende: Bardame Gina Echsner wurde in ihrer Wohnung brutal ermordet. Bild: BR/TV60/Julia von Vietinghoff |
Morde aus der Vergangenheit
Eine Rückblende im Film ist nichts Besonderes. Auch in Krimis gab es das schon häufig. Doch in diesem Fall führt die Zeitreise weiter als üblich zurück: in das München der 60er-Jahre, als die Stadt noch ein echtes Rotlichtviertel besaß. Der Streifenpolizist Bernie entdeckt die Edel-Prostituierte Gina Echsner ermordet in ihrer Wohnung, übel zugerichtet. Er ist, das erkennt der Betrachter sofort, persönlich betroffen. Und so entfernt er sich auf Anraten seines Streifenkollegen Hubi heimlich vom TATORT. Der Mord konnte nie aufgeklärt werden.
Nun aber, in der Gegenwart, taucht plötzlich die Mordwaffe auf. Sie befindet sich im Wagen des ehemaligen Unterweltkönigs Robert ?Roy? Esslinger. Der ist erst seit Kurzem wieder in Deutschland zurück, nachdem er 25 Jahre in den USA lebte. Damals, in den 60-ern, war er der König des roten Bezirks, hatte Stillschweige-Vereinbarungen mit der Polizei, und er kannte das Opfer. Doch der Täter, so schwört der großkotzige Kerl, sei er nicht.
Leitmayr und Batic statten dem ehemaligen Bordellbesitzer "Roy" Esslinger einen Besuch ab. Bild: BR/TV60/Julia von Vietinghoff |
Schwarz-Weiß-Szenen im TATORT
Immer wieder springt der Film zwischen den Zeiten. Lange wurde diskutiert, ob die Rückblenden in Schwarz-Weiß geschehen sollten. Doch da man unter anderem auch mit Aufnahmen aus der BR-Polizeiserie ?Funkstreife Isar 12? arbeitete, entschied sich die Crew rund um Michael Gutmann schließlich dafür. Dem Zuschauer macht es dieser ja nicht ungewöhnliche Kunstgriff deutlich leichter. Zumal auch bei den Spielszenen in den 60er-Jahren munter in den Zeiten gewechselt wird. So erfährt der Zuschauer Schritt für Schritt, was damals geschah. Und er stellt sich nahezu den gesamten Film über hinweg die Kernfrage: Wer ist wer?
Viele Charaktere von damals tauchen auch in der Gegenwart wieder auf. Manche geben sich zu erkennen, manche bleiben inkognito. Und den beiden Kommissaren Batic und Leitmayr obliegt es, die Zusammenhänge zwischen damals und heute zu finden. Deren Darsteller Mioslav Nemec und Udo Wachtveitl agieren diesmal recht zurückhaltend, stellen sich ganz und gar in den Dienst eines Films, der vor allem durch seine ungewöhnliche Erzählweise und die visuelle Ästhetik funktioniert und nachhaltigen Eindruck hinterlässt. Denn der Betrachter ahnt schon weit früher als die Ermittler, wer hier wer sein könnte. Den Mörder selbst gibt's am Ende ein bisschen unvermittelt obendrauf.
"Opa" Sirsch in seinem Auto, Bild: BR/TV60/Julia von Vietinghoff |
Der alte Depp
?Der oide Depp?, der alte Depp, das scheint ein Kommissar zu sein, der diesmal dem Münchner Duo zugeteilt wird. ?Opa Sirsch? möchte er genannt werden. Eine wunderbare Rolle für Fred Stillkrauth, Jahrgang 1939, den vor allem das Münchner Theaterpublikum gut kennt. Nicht nur aus der Rolle des Brandner Kaspars, den er in der Landeshauptstadt über 200-mal gab. Zunächst blicken die Kommissare ziemlich skeptisch auf den alten Neuen, der mit Technik und Ermittlungsmethoden der Gegenwart so gar nichts anzufangen weiß. Aber der erfahrene Krimizuschauer ahnt es ja schon: So eine Episodenhauptfigur wird nicht umsonst eingeführt. Geschweige denn, dass ein ganzer TATORT nach ihr benannt wird ...
|