Das Biotech-Zeitalter
Hintergrund von Drehbuchautorin Ingeborg Bellmann
Das Biotech-Zeitalter war ausgerufen, als der amerikanische
Präsident Bill Clinton am 26. Juni 2000 gemeinsam mit
dem Forscher Francis Collins und dem DNA-Unternehmer
Craig Venter eine "vorläufige Fassung" des Humangenoms
präsentierte. "Die Sprache, in der Gott das Leben schuf",
nannte Clinton die Kette der drei Milliarden Gen-
Buchstaben A, C, G, T (Abkürzungen für die Basen Adenin,
Cytosin, Guanin, Thymin). Die Forscher versprachen, bald
würden Krebs und Co. für immer besiegt. Biotech boomte
am Aktienmarkt und über Nacht war die Firma des Genom-
Entschlüsslers Craig Venter Millarden Dollar wert1.
Salima bricht in Gegenwart von Batic und Leitmayr plötzlich zusammen, Bild: BR/Barbara Bauriedl |
Die Biotech-Branche kämpfte ums Überleben
Aber weil das Zusammenspiel der Zellen viel komplexer war
als angenommen, so schnell wurde der Krebs nicht besiegt,
flaute die Euphorie ab. Die Aktienanleger zogen sich zurück.
Die Börsenkurse kippten. Die Biotech-Branche kämpfte ums
Überleben2.
2001 hatte der deutsche Forscher Dr. Thomas Tuschl seine
Erfindung, die RNA-Interferenz, eine Methode, gezielt einzelne
Gene abzuschalten, zum ersten Mal erfolgreich in
Kulturen menschlicher Zellen getestet, den HeLa-Zellen. Mit
dieser Methode sollte es möglich sein, irgendwann auch
Tumorgene im erwachsenen Menschen auszuschalten3.
"Die Euphorie ist wieder da"
Doch die Wende kam erst 2003. Als auf der 39. Tagung der
American Society of Clinical Oncology in Chicago 400 neue
Krebsmittel avisiert wurden.Von Verkaufsschlagern war die
Rede, Milliarden-Umsätzen, Traumgewinnen für Anleger.
"Die Euphorie ist wieder da", meldete Heiko Martens im
Spiegel. Zwar schienen sich die Forscher davon verabschiedet
zu haben, den Krebs mit einem einzigen Wundermittel
zu besiegen. Aber die Möglichkeit, auf molekularer Ebene
gezielt die Vermehrung der erkrankten Zellen zu verhindern
? ohne Chemotherapie - sahen sie gegeben. Die Forscher,
schien es, waren realistischer geworden und bauten möglichen
Rückschlägen vor4.
Doch wen interessieren angesichts der Möglichkeit, die
Menschheitsgeisel Krebs zu besiegen, wenn auch nicht mit
einem einzigen Wundermittel, die Rückschläge? Jeder
Fortschritt wurde und wird auch mit Rückschlägen bezahlt.
Und gerade die unerschrockenen Forscher und Mediziner
waren und sind es, denen wir Heilung und Rettung verdanken.
Wer hätte vor fünf Jahren gedacht, dass man
Schweineorgane, Herzen oder Nieren, wirklich in Menschen
verpflanzen kann? Versuche in dieser Richtung gab es schon
lange5. Wenn die Studie in Großhadern in vier, fünf Jahren
abgeschlossen sein wird, werden wir es genauer wissen6.
Dr. Dr. Jahnn bringt Mädchen aus Afghanistan nach Deutschland, Bild: BR/Barbara Bauriedl |
Die Hoffnung, den Krebs zu besiegen
Ich dockte mich also an die Hoffnung, den Krebs zu besiegen,
an und überlegte, wie ich aus diesem
Menschheitstraum einen Krimi machen könnte.
Menschenversuche. Dass es sie gibt, wissen wir. In Afrika,
China, der Ukraine. Dort, wo die Kontrollen lax sind. Aber
wie könnte ich Menschenversuche nach Deutschland
holen? Kein Blick in Frankensteins Burg, finstere
Versuchslabore, geschundene und gequälte Menschenleiber.
Nein. Ein Menschenversuch im hellen Licht der
Öffentlichkeit und dem reinweißen Kleid der Unschuld.
Also: Was wäre, wenn es einem engagierten Biologen und
Mediziner gelungen wäre, eine Therapie zu entwickeln,
Leukämie zu besiegen? (Auf der Liste der Krankheiten, bei
denen man mit einem Erfolg rechnete, stand Leukämie weit
oben7.) Um in den Genuss von Ruhm und Ehre zu kommen
und damit dem Forscher der Aktienmarkt zu Füßen läge,
müsste er die Wirksamkeit seiner Erfindung in einer
regulären klinischen Studie am Menschen nachweisen.
Nichts dem Zufall überlassen
Diese Studie müsste schnell vonstatten gehen und unbedingt
erfolgreich sein, weil der Aktienmarkt Schnelligkeit
und Erfolg belohnt, und mit dem Geld des Börsengangs die
Entwicklung zur Marktreife der Erfindung zu finanzieren
wäre. Nüchtern wog ich Schaden und Nutzen gegeneinander
ab: Nichts mehr konnte dem Zufall überlassen werden.
Schon gar nicht die Therapie bei Schwerkranken zu testen.
Die Schlagzeile "Versuch gelungen. Patient tot!" wäre das
Ende des "Leukämiekillers". Der Markt ist unbarmherzig,
siehe oben.
Prof. Frey und Dr. Dr. Jahnn, Bild: BR/Barbara Bauriedl |
Der kontrollierte Versuch
So entstand die Idee vom "kontrollierten Versuch": Wenn es
möglich war, Gene gezielt abzuschalten, musste es auch
möglich sein, sie gezielt anzuschalten, die Leukämie gezielt
herzustellen, um sie kontrollieren und heilen zu können.Am
geeignetsten erschienen mir Kinder als "Versuchskaninchen",
weil deren Organismus noch im Aufbau begriffen
ist und die Selbstheilungskräfte noch intakt sind. Die
Studie sollte dem behördlichen Blick standhalten und ich
musste darauf achten, keine Mitwisser oder Gegner zu
schaffen. So entstand die Idee zu einer Stiftung, über
die die "kranken" Kinder aus Kriegsgebieten nach
Deutschland geholt werden.
Mit dieser Konstruktion brauchte ich für den Krimi weder
Mitarbeiter einer Behörde für die Zulassung klinischer
Studien zu bestechen noch sie zu fürchten, vielmehr konnte ich mich
auf ihr Mitgefühl und ehrliches Bedürfnis humanitärer Hilfe
verlassen, auch die Aufenthaltsgenehmigung für die Kinder wäre
rasch erteilt, und es gab keine Eltern, die ihre Kinder schützen
könnten.
Dr. Dr. Jahnn und Prof. Frey
Ich brauchte für mein Vorhaben also nur zwei Eingeweihte:
den Biologen und Mediziner Dr. Dr. Jahnn und Professor
Frey, den renommierten Kinderarzt mit eigener Klinik. Beide
erfolgreich, mit einen untadeligen Leumund ausgestattet,
außerdem durch ihr ehrenamtliches medizinisches
Engagement in Kriegsgebieten ausgezeichnet. Gemeinsam
suchen sie dort die Kinder aus und führen die Studie in
Freys Privatklinik in München durch. Keine Sekunde
zweifeln sie an ihrem Erfolg.
Werner Hübner droht damit, die Ärzte zu verklagen, Bild: BR/Barbara Bauriedl |
Das Pflegeelternkonzept
Mit dem Pflegeelternkonzept ließe sich die Frage der
Unterbringung der Kinder kostengünstig und effizient
lösen. Dafür brauchte ich verlässliche und gesellschaftlich
akzeptierte Familien, die hundertprozentig funktionieren.
Auch hier griff ich die gegenwärtige gesellschaftliche
Situation und Stimmung auf. Während Deutschland als
Exportweltmeister Furore macht (auch 2008 wird es wieder
so sein), kämpft der Mittelstand gegen den Absturz. Hier, im
vom Absturz bedrohten Mittelstand, würde ich die passenden
Familien finden. Solche, in denen der Vater arbeitslos
geworden war, aber die den Schein noch wahrten. Mit der
Angst im Nacken, den Boden unter den Füßen restlos zu verlieren,
würden sie für 3000 Euro Pflegegeld den
Pflegschaftsvertrag nicht nur unterzeichnen, sie würden
auch alle Auflagen erfüllen. Nichts würden sie tun, da war
ich mir sicher, um ihre prekäre Existenz zu gefährden. Auf
den Mittelstand ist in gewisser Weise immer Verlass8.
Das Exposé des Krimis
2004 war der Krimi mit dem Arbeitstitel
"Versuchskaninchen" im Exposé fertig. Ich gab es befreundeten
Ärzten und Krankenschwestern, bat sie um Prüfung
und Hilfe. Mit allem rechnete ich, aber nicht damit, dass
ausnahmslos alle die Geschichte für wahr hielten und wissen
wollten, wo diese Versuche stattfänden. Ich beteuerte,
nichts davon sei wahr, pure Phantasie, ausgedacht. Dann
erzählten sie Erlebnisse und Geschichten aus ihrem klinischen
Alltag, auch von Menschenversuchen, mehr als ein
Krimi war darunter, und stützten damit den Realitätsgehalt
der Geschichte.
Ivo Batic befragt Herrn Greindl, Bild: BR/Barbara Bauriedl |
Die Reportage "Kinder als Versuchskaninchen"
Am 10. August 2005 berührte die Geschichte ein weiteres
Mal die Realität. Um 23.45 Uhr lief in der ARD die Reportage
"Kinder als Versuchskaninchen". Der Journalist Jamie Doran
hatte herausgefunden, dass in New-York Pharmakonzerne
Versuchsreihen mit Anti-Aids-Medikamenten an HIV-positiven
Waisenkindern durchgeführt haben, meist afro- oder
lateinamerikanischer Herkunft, und dabei von der
Jugendbehörde unterstützt wurden. Einige Waisenkinder
hatten sie in Pflegefamilien untergebracht, die pro Kind
2000 Dollar erhielten und nur eine Aufgabe hatten: dafür
zu sorgen, dass die Kinder den Anti-Aids-Cocktail einnahmen.
Arzneimittelversuch in London
Am 13. März 2006, ich schrieb am Treatment für den TATORT,
erschütterte ein Arzneimittelversuch in London die Öffentlichkeit.
Sechs jungen Männern, "freiwillige Versuchskaninchen",
hatte man den Wirkstoff TGN1412 injiziert.
Minuten später waren ihre Hälse und Köpfe angeschwollen
und sie wurden auf die Intensivstation verlegt. Einem
Probanden mussten Fingerkuppen und Zehen amputiert
werden. Das Würzburger Pharmaunternehmen TeGenero,
das sich mit der Produktion und Vermarktung ihres einzigen
Präparates TGN1412, einem Wirkstoff gegen Arthritis,
Multiple Sklerose und Leukämie, Millionengewinne versprochen
hatte, meldete Insolvenz an. Aufgrund der nicht vorhersehbaren
Nebenwirkungen von TGN1412 war es dem
Unternehmen unmöglich, weitere Finanzmittel einzuwerben9.
Batic und Leitmayr glauben, dass Dr. Jung das Foto des Toten an die Presse gegeben hat, Bild: BR/Barbara Bauriedl |
Angst vor schlechter Presse
Die Angst vor schlechter Presse, als Folge des Londoner
Desasters und anderer gentherapeutischer Misserfolge,
bekam auch ich zu spüren, als ich Kontakt zu Biologen suchte,
die im Bereich der Gentechnologie forschten. Ich brauchte
für den Krimi die Würze der Labor-Realität und wollte
wissen, ob es möglich sei "gezielt", nicht nur zufällig, einen
Menschen leukämiekrank zu machen. Nein. Kein Interesse.
Keine Zeit. Die deutlichste Absage war, dass man sicher sei,
die Gentechnologie könne in einem Krimi nur an den
Pranger gestellt werden.
Doch dann öffnete sich mir die Tür des Interfakultären
Instituts für Zellbiologie der Universität Tübingen. Eine
Kollegin hatte mir den Kontakt mit der Molekularbiologin
Dr. Tassula Proikas-Cezanne vermittelt, Leiterin der
Arbeitsgruppe Autophagie10. Ich traf eine mit Leib und Seele
engagierte Biologin und Forscherin, offen, interessiert und
ohne Berührungsängste. Sie erklärte sich bereit, mich wissenschaftlich
zu beraten. Die Frage, ob es möglich sei, einen
Menschen gezielt leukämiekrank zu machen, hatten wir
schnell geklärt. Im Film stellt Leitmayr die Frage und Frau Dr.
Fröhlich beantwortet sie, so wie Frau Dr. Proikas-Cezanne
sie beantwortet hat. Aber jetzt hatte ich dasselbe Problem
wie die Gendopingfahnder11.
Wie konnte man nachweisen, dass die Gene manipuliert wurden?
Die Kinder sind bereits auf
dem Weg zur Heilung, wie konnte man nachweisen, dass
ihre Gene manipuliert wurden? Frau Dr. Proikas-Cezanne
kam auf die Lösung. Gemeinsam spielten wir die nächtliche
Szene des Films in Dr. Fröhlichs Labor im Tübinger Institut
durch. Damit war klar: Jahnn darf keine Gelegenheit haben,
die Daten auf seinem Computer zu löschen, Batic und
Leitmayr müssen schneller sein.
Ivo Batic und Dr. Fröhlich, Bild: BR/Barbara Bauriedl |
Der Traum, die Leukämie zu besiegen
Vorbild für die im Film verwendete Therapie von Jahnn ist
die RNA-Interferenz. Sehr anschaulich und nachvollziehbar
hatte Sina Bartfeld in ihrem Artikel "Der Haken: Wie kommt
die RNA an den Zielort?" beschrieben, dass und wie diese
Methode als Therapieverfahren vielleicht irgendwann einmal
auch in der Behandlung von Leukämie funktionieren
könnte12. Daran habe ich mich orientiert. Und für einen kurzen
Moment scheint es so in dem TATORT, als sei der Traum,
die Leukämie zu besiegen, wahr geworden.
Um die Geschichte zu entwickeln, brauchte ich weder in die
Abgründe der menschlichen Seele zu schauen noch das
Dritte Reich zu bemühen. Es reichte völlig aus, mich den
Gesetzen des Marktes unterzuordnen. Und das war auch die
Frage, die mich interessiert hat: Was geschieht, wenn die
Gesetze des Marktes unser Leben bestimmen? Wenn nur
noch der Erfolg zählt, wenn das Geld knapp wird. Stehen
dann wirklich diejenigen auf verlorenem Posten, die aufmerksam,
wach und mitfühlend sind? Wie verschieben sich
die Werte? Werner Hübner war der Sand im Getriebe. Er
musste sterben. Jetzt müssen Batic und Leitmayr ermitteln.
Quellen/Fußnoten:
1) Eine Ahnung davon, wie groß die Euphorie nach der Präsentation des Humangenoms war, bekommt man noch, wenn man sich erinnert, dass die FAZ damals ihr Feuilleton voll druckte mit den Genbuchstaben A, C, G, T.
2) S. den Artikel von Heiko Martens:„Die Euphorie ist wieder da". In Spiegel, Nr. 24, 2003, S. 74-76.
3) S. die Pressemeldung des Max-Planck-Instituts für biophysikalische Chemie Göttingen von Christoph Nothdurft, „Methodischer Durchbruch in der
Gentechnologie" vom 24. 5. 2001.
4) Vgl. Heiko Martens, a.a.O.
5) Vgl. den Aufsatz von Silke Schicktanz: „Fremdkörper: Die Grenzüberschreitung als Prinzip der Transplantationsmedizin". In: Biofakte. Versuch über denMenschen zwischen Artefakt und Lebewesen, Paderborn 2003, S. 179-197.
6) S. das Interview mit dem Herzchirurgen Professor Bruno Reichart, der Menschen Schweineherzen einpflanzen will:„Ich hasse den Tod". In: Die Zeit 24, 2007.
7) S. Nicola Siegmund-Schultzes Artikel „Schock für die Therapeuten", FR, 30.5.2006.
8) Interessant hinsichtlich der Angst des Mittelstandes vor Statusverlust das Dossier von Stephan Lebert und Stefan Willeke,„Die Starnberger Republik". In: Die Zeit, Nr. 52, 2006.
9) Die Presse berichtete ausführlich einige Wochen darüber. Exemplarisch die Berichterstattung in der SZ, Nr. 65, 2006.
10) In dem Artikel „Agil, aber tödlich" stellte Harro Albrecht 2004 vier Gelegenheiten für die therapeutische Disziplinierung von Krebszellen vor. Unter dem Stichwort „Recycling" beschreibt er den Prozess der Autophagie, die Selbstkannibalisierung, und zitiert Frau Dr. Proikas-Cezanne, die damals gerade das zweite Protein gefunden hatte, das diese Autophagie reguliert. In: Die Zeit, Nr. 51, 2004.
11) Vgl. die Dokumentationen „hitec: Manipulation der Gene" von Annika Schipke, die am 7.7.2008 um 21.30 Uhr auf 3 Sat lief und „Olympia im Reich der Mittel" von Hans-Joachim Seppelt und Joachim Goll, die am 21.7.2008 um 21.Uhr in der ARD gesendet wurde. Sehr interessant auch der Artikel von Beat Glogger,„Die DNAthleten". In: Die Zeit, 32, 2008. Beat Glogger hat auch den Gendoping-Thriller „Lauf um mein Leben" geschrieben.
12) http://www.sciencegarden.de/content/2005-09/der-haken-wie-kommt-die- rna-den-zielort
Drehbuchautorin Ingeborg Bellmann in der Pressemappe zu "Häschen in der Grube"
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