"Ich habe das fast fertige Drehbuch weggeworfen"
Interview mit Drehbuchautor Sascha Arango
Eine fast volljährige Internatsschülerin lässt in der
Kosmetikabteilung einiges mitgehen, kurz darauf wird
sie vom Kaufhaus-Detektiv erdrosselt ? was war für
Sie der Ansatzpunkt Ihres Drehbuchs?
Die Anregung zu diesem Drehbuch kam von Hauptdarsteller
Axel Milberg und Regisseurin Claudia Garde, die sich
eine Geschichte gewünscht haben, die in einem Mädchen-
Internat spielt.
Und Sie hatten sofort den zündenden Einfall?
Nein, ich war sehr skeptisch, ob ich diesen Einfall haben
würde. Ich habe mich dann mit Elan an die Arbeit gemacht
? und das fast fertige Drehbuch schließlich weggeworfen.
Wie bitte?
Mein ursprüngliches Konzept hat einfach nicht funktioniert.
Was mich rettete,war die Überlegung, die vorhandenen
Figuren der Story beizubehalten und die Geschichte
von einer anderen Seite her aufzuzäumen.
Bevor wir ins Detail gehen: Der Clou Ihres Drehbuchs liegt
darin, dass der Täter schon zu Beginn verraten wird.Was ist
denn das Spannende für den Zuschauer,wenn er den Täter
schon kennt?
Ich schreibe meine Krimi-Drehbücher meistens nach
diesem Prinzip. Dabei gehe ich von mir selbst aus. Als TV-Zuschauer interessiert mich weniger die Frage, wer die Tat
begangen hat, als die Frage,was nach der Tat geschieht.
Ihre hochgelobte Lena-Odenthal-Folge ?Der kalte Tod?
hat ebenfalls einen schon zu Beginn bekannten
Täter.War es schwer, den NDR von Ihrem Konzept zu
überzeugen?
Nein, überhaupt nicht. Entscheidend ist doch, dass der
Krimi spannend wird. Mich hat jetzt weniger das Mysterium,
das Rätselraten um den Täter interessiert als die
Leidensgeschichte des Täters und des Verfalls seiner
Familie.
Wie kamen Sie darauf? Haben Sie alte ?Columbo?-Folgen
gesehen und sich gedacht, dass diese Methode doch ganz
clever ist?
Ich bin ein absoluter ?Columbo?-Fan.?Columbo?-Folgen
sind immer als Duell angelegt, und genau diese Art von
Dramaturgie lege ich auch ich meinem Drehbuch zugrunde.
Columbo ahnt ziemlich schnell, dass er es mit dem Täter
zu tun hat. Der Zuschauer weiß es bereits. Am Ende des
Films aber erfährt er, der scheinbar Allwissende, immer
etwas, das er vorher noch nicht wusste.
Sind die Anforderungen an den Autor bei Krimis nach dem
?Columbo?-Prinzip größer?
Nein, das hat etwas mit den Vorlieben des Autors zu tun.
Die Anforderungen an ihn sind dann am größten, wenn es
ihm am schwersten fällt. Der Lohn der Arbeit für mich ist
immer der Schluss, das Finale, in dem ich Kommissar und
Täter aufeinanderprallen lasse.
Ihr Krimi beginnt mit dem Tod der Internatsschülerin
Belinda. Als Kaufhaus-Detektiv Raven sie beim Diebstahl
erwischt, versucht sie, ihm sexuellen Missbrauch anzuhängen.
Der verzweifelte Raven erdrosselt sie.Greifen Sie
damit eine männliche Angst unserer Zeit auf? Die Angst,
ihre Unschuld nicht beweisen zu können?
In der Tat haben Männer sehr schlechte Karten, wenn
Frauen ihnen sexuellen Missbrauch anhängen wollen.
In den USA wurden beispielsweise Verurteilte nach jahrelanger
Haftstrafe freigelassen, weil man jetzt mit Hilfe
einer DNA-Analyse ihre Unschuld beweisen konnte.
Kaufhaus-Detektiv Raven muss fürchten, seinen Job zu
verlieren. Er sieht keinen anderen Ausweg als das Mädchen
zu töten.
Lässt sich Ihr Täter am besten mit dem knappen Begriff
?Loser? beschreiben? Ist Klaus Raven ein Verlierertyp, der
mehr Niederlagen einstecken musste, als ein Mensch
verkraften kann?
Er gehört zu den unauffälligen, eher einfach gestrickten
Menschen. Durch eine Vielzahl von Umständen wird er so
stark belastet, dass er dieser Belastung irgendwann nicht
mehr standhält. Dieser Mann könnte auch zum Amokläufer
werden. Statt von einem Verlierer möchte ich lieber vom
Gesetz der Umstände sprechen. Und wenn sich dann der
äußere Feind mit dem inneren Feind verbündet, ist der Weg
in die Katastrophe vorgezeichnet.
Sie begnügen sich nicht mit finanzieller Bedrängnis ? der
Mann wird auch noch von seiner Ehefrau nach Strich und
Faden betrogen ? erscheint es da nahezu zwangsläufig,
dass dieser Mann eines Tages überkocht und ausrastet?
Sie betrügt ihn weniger, sie verdient Geld im Ehebett ? weil
sie glaubt, dass dies für ihre Tochter das einzig Richtige
ist. Maria Schrader spielt diese Rolle mit angemessenem
zurückhaltendem Ernst ? ohne gehässig, ohne dekuvrierend
zu sein. Sie stellt auf sehr genaue Weise die Lage
und den Weh dieser Frau dar, die nur das Beste für ihre
Tochter will.
Wie stricken Sie die Geschichte jetzt weiter? Die Jury
des Deutschen Fernsehpreises, für den Sie bereits
nominiert waren, lobte Ihre ?originellen Handlungsverläufe?.
Was treibt den neuen Borowski-Krimi jetzt
vorwärts?
Entscheidend für den weiteren Verlauf ist ein einziger
Moment:Kommissar Borowski steigt zu dem Mörder ins
Auto, nachdem er im Moor einen Wolf angefahren hat,und
lässt sich zum Internat mitnehmen ? mit der Leiche hinten
im Auto. Borowskis nachdenklicher Satz ?Man tötet eine
Kreatur und denkt sich nichts dabei? hat natürlich auch für
Raven eine große Bedeutung. Beide treffen jetzt immer
wieder zusammen.
Da wir den Täter kennen, kommt es jetzt auf die Verwicklungen
und Verstrickungen an ? vor allem bringen Sie den
Täter und Borowski in Beziehung miteinander ? können Sie
diese Beziehung beschreiben?
Ihr Verhältnis ist geradezu freundschaftlich. Es entwickelt
sich eine kumpelhafte Männerfreundschaft. Das kann bei
Männern ja so erfrischend einfach sein.
Borowskis private Konflikte bleiben in diesem Fall außen
vor.Was hat Sie an Borowski diesmal interessiert?
Das Privatleben der Kommissare finde ich generell nicht
so interessant. Mich interessieren die Fälle. Zumal Borowski
ein Typ ist, der sein Privatleben beruflich auslebt, und
Milberg ein Schauspieler, der dies so kongenial umsetzen
kann. Borowski besteht sozusagen aus Meinung, Intuition
und innerer Stimme.Wenn Borowski ermittelt, steht auch
der Privatmann vor uns.
Gibt es den Moment, in dem er dem Täter auf die Spur
kommt? Oder ist dies ein allmählicher Prozess?
Als Borowski gegenüber Frieda Jung den Satz wiederholt,
seine Arbeit erfordere ein hohes Maß an Demut und Interesse,
erkennt er, dass er dem Täter sehr ähnlich ist, er ahnt,
dass er ihm schon begegnet ist. Ich setze auf die Intuition
des Kriminalisten.
In der Geschichte setzen Sie aber auch auf mystische, märchenhafte
Elemente ? im nebligen Moor begegnet Borowski
ein Wolf. Haben Sie ein Faible fürs Märchenhafte?
Sagen wir es so: Ich bin ein Fan des Unerklärlichen im
Erklärlichen. In die Fülle der alltäglichen Geschehnisse baue
ich gern kleine unerklärliche Momente ein ? einen Hauch
von magischem Realismus, der einer Geschichte zusätzliche
Würze gibt.
Dieser ?Tatort? endet zudem mit einem ziemlich blutigen
Showdown.Konnten Sie die Geschichte nicht unblutiger
auflösen?
Für mich führt diese Geschichte unausweichlich zu einem
solchen gewalttätigen Abschluss. Mir liegt viel an dieser
vollkommenen Entladung der angestauten Aggressionen,
auf die das Duell zwischen Borowski und dem Täter mit all
ihren kontrollierten Boshaftigkeiten zuläuft. Das Innere der
Figuren kehrt sich hier auf drastische Weise nach außen.
Ich bin sehr froh, dass der NDR mein Konzept akzeptiert
und unterstützt.
Gehen Sie gern an die Grenzen ? und darüber hinaus?
Ich bin stolz, dass ich die Konventionen hier so klar umgehen
darf, aber ich finde auch, dass ich im Rahmen eines
?Tatorts? mehr Spielräume habe als im Rahmen eines herkömmlichen
Fernsehfilms. In keinem anderen Genre haben
wir Autoren so viel Freiheit wie beim Krimi-Flaggschiff
?Tatort?.
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