?Bedingt durch ihre Schwangerschaft ist
Charlotte Lindholm jetzt angreifbarer und
schwächer als bisher?
Gespräch mit Maria Furtwängler
Bild: NDR/Christine Schroeder |
Akten wälzen statt Verdächtige verfolgen:Kommissarin
Lindholm, schwanger im fünften Monat, schiebt im neuen
?Tatort? Innendienst im Landeskriminalamt Hannover.
Wie bekommt ihr das Büroleben?
Überhaupt nicht! Es ist ein Desaster. Charlotte Lindholm
liebt ihren Beruf,weil sie durch Städte und Dörfer streifen
und ihr eigenes Ding machen kann. Es fällt ihr unglaublich
schwer, sich jetzt in die Vorgaben der Bürokratie einzuordnen
und Teamfähigkeit zu beweisen. Mit Rückendeckung
ihres Chefs hat sie bisher geradezu selbstherrlich ermittelt.
Der neue Chef sieht das anders. Für meine Kommissarin
allerdings ist es absolut unerträglich, sich wegen ihrer
Schwangerschaft so einzuschränken.
Umso mehr genießt sie vermutlich das kommende
Mutterglück, oder?
Schön wäre es. Doch ihre Beziehung zur eigenen Schwangerschaft
ist zumindest in dieser Phase nicht ungetrübt.
Zwar hat sich die Kommissarin bewusst für das Kind
entschieden ? doch gerade als Schwangere spürt sie jetzt
umso deutlicher ihre Einsamkeit. Ihr wird klar, dass sie
keinen Mann an ihrer Seite hat außer ihrem lieben, lieben
Mitbewohner Martin. Doch Martin kann den Vater des
Kindes nicht ersetzen.
Lindholms männliche Kollegen, speziell der neue
Staatsanwalt Stefan Bitomsky und ihr deutsch-türkischer
LKA-Kollege Attila Aslan, halten sie rigoros vom Außendienst
fern und verweisen auf die Vorschriften zum
Mutterschutz. Ist die scheinbare Fürsorge in Wahrheit ein
verdeckter Angriff der Männerriege gegen die weibliche
Konkurrenz?
Ja, die Herren der Schöpfung nutzen auf sehr problematische
Weise diese Schwangerschaft, um meine Kommissarin
zu kontrollieren und in den Griff zu kriegen. Ohne Schwangerschaft
würde sie sich garantiert im LKA durchsetzen,
und es belastet sie, dass sie nicht die Freiheit und Chuzpe
entwickeln kann, die sie sonst hätte.
Ist heuchlerische Überfürsorge die schlimmste Form der
Diskriminierung gegen Frauen?
Ich glaube schon, dass manchmal Männer die Macht der
Frauen, Kinder gebären zu können, bedrohlich finden ? und
deshalb versuchen, schwangere Frauen in die Schranken zu
weisen.
Die Männer vom LKA ermitteln in deutsch-türkischen
Kreisen gegen eine Bande, die Raubkopien von brandneuen
Computerspielen vertreibt.Wie gelingt es Lindholm bei
dieser Sachlage, ihren Aktenbergen zu entkommen?
Charlotte Lindholm will ran an den Fall, ran an die
Menschen, und sie versucht alles, um dem Bürodienst zu
entwischen. Ihre Befähigung zur ordentlichen Aktenführung
ist sehr begrenzt. Sie nutzt die Chance, zu einem
Tatort zu eilen, als ihre ?Bewacher? gerade nicht im Haus
sind. Dort hat man nun ausgerechnet die Leiche eines
deutsch-türkischen Mädchens gefunden, mit dem sie kurz
zuvor auf der Straße zusammengeprallt war. Das Mädchen
hatte einen heftigen Streit mit einem Mann und für
Lindholm ist sehr schnell klar, dass sie keines natürlichen
Todes gestorben ist.
Anschließend gibt es natürlich Ärger für Lindholm:
Der neue Vorgesetzte Bitomsky verwarnt sie,
Kollege Aslan versucht, sie auszubremsen.Wie wehrt
sich Lindholm gegen das Macho-Gehabe?
Sie zeigt ihren männlichen Kollegen, dass sie sich
nicht beirren lässt. Doch ihr Selbstbewusstsein
ist diesmal nicht so stark, wie sie es erscheinen lassen
will. So wie ich die Rolle hier spiele, versuche ich zu
verdeutlichen, dass die Angriffe der Männer sie stärker
aus der Bahn werfen und irritieren als bisher.
Bedingt durch ihre Schwangerschaft ist Charlotte
Lindholm jetzt angreifbarer und schwächer als bisher.
Deshalb kann sie das heranwachsende Leben
überhaupt nicht genießen. Stattdessen konzentriert
sie sich um so mehr auf ihren Fall. Denn ihr kriminalistischer
Instinkt, ihr Bewusstsein, dass sie und
nur sie diesen Fall lösen kann und muss, ist auch der
schwangeren Charlotte Lindholm nicht verloren
gegangen.
Als Lindholms deutsch-türkischen LKA-Kollegen Attila
Aslan erleben wir in diesem ?Tatort? Mehmet Kurtulus.
Wussten Sie beim Dreh schon, dass er Nachfolger von
Robert Atzorn beim Hamburger ?Tatort? wird ? und
damit Ihr Konkurrent beim Wettstreit um die Gunst des
Publikums?
Nein. Die Fernsehfilm-Redaktion des NDR ist gerade
durch diesen Gastauftritt auf Mehmet Kurtulus aufmerksam
geworden. Ich wünsche ihm viel Glück. Er bringt
eine neue, spannende Farbe in den ?Tatort?. Ich finde die
Entscheidung, einen deutsch-türkischen Kommissar zu
kreieren, außerordentlich klug. Es ist höchste Zeit dafür ?
ein schlauer Schachzug von NDR-Fernsehfilmchefin
Doris J. Heinze.
Im Gegensatz zu ihren Kollegen glaubt Lindholm nicht
daran, dass sich die junge Afife selbst das Leben genommen
hat. Ist das der kriminalistische Instinkt, der hier
wirksam wird? Oder erliegt sie ihren Vorurteilen?
Ein entscheidender Auslöser dafür, dass Lindholm so
vehement an der Selbstmord-Theorie zweifelt, liegt in
der persönlichen Begegnung. Lindholm hatte sie zufällig
zuvor auf der Straße erlebt und dabei deutlich gespürt,
in welcher Stresssituation sich die junge Frau befand.
Charlotte Lindholm hat eine extrem vitale, aggressive,
heftig reagierende Person erlebt. Es hat für sie einfach
nicht gepasst, dass Afife kurz darauf in tiefster Depression
Selbstmord begehen würde.Vorurteile mögen am
Rande hineinspielen, als Lindholm sich klar für die Mord-
Theorie entscheidet, sind aber hier nicht der entscheidende
Punkt.
Hier siegen Charlotte Lindholms Beobachtungsgabe, ihre
Intuition und ihr kriminalistischer Instinkt, oder?
Im Krimi erzählen wir nun einmal von Kommissaren,
die im entscheidenden Moment die richtige Idee haben.
Wir erzählen Heldengeschichten, keine Verlierergeschichten
? sonst würden Krimis nicht funktionieren.
Die Ermittlungen nach Afifes Tod führen Charlotte
Lindholm und die Fernsehzuschauer in den Kosmos einer
türkischen Familie.Welche Konstellation lernen wir
kennen?
Beim Schritt in die Wohnung der Familie Özkan taucht
Charlotte Lindholm in eine fremde Welt ein. Ihre Selbstsicherheit
und ihr Können beim Verhör nützen ihr nicht,
da sie weder die Sprache noch die kulturellen Gepflogenheiten
kennt. Indem sie ihre Schuhe an der Türschwelle
auszieht, wird ihr auch im symbolischen Sinn der vertraute
Boden unter den Füßen weggezogen. Dennoch beißt sie
sich fest und gibt nicht auf. Ich finde es richtig, dass die
türkischen Dialoge hier nicht übersetzt werden, damit
die Zuschauer genau diesen Blick von außen miterleben
können, den die Kommissarin hier durchlebt.
War dieser Film für Sie persönlich ebenfalls eine Entdeckungsreise,
hinein in die Welt unbekannter Parallelgesellschaften
im eigenen Land?
Als die Dreharbeiten begannen, kannte ich so gut wie keine
Türken oder Deutsch-Türken. Eine private Istanbul-Reise
hat mich dieser Welt jetzt ein Stück weit näher gebracht.
Den Einstieg haben mir die deutsch-türkischen Darsteller
wie Hilmi Sözer oder Meral Perin ermöglicht, die in diesem
?Tatort? mitgespielt haben.
Zu welcher Einschätzung sind Sie gekommen?
Im Grunde haben wir Deutschen ein großes Kommunikationsproblem.
Es ist uns nicht gelungen, eine große Zahl
von Kindern mit Migrationshintergrund an unserem
Bildungssystem teilhaben zu lassen. Dass sich ein Teil nicht
integrieren will, kann keine Entschuldigung dafür sein, dass
wir bisher zu wenig für die Integration getan haben. Für
mich war es sehr spannend, mit diesen Kollegen, zu denen
es überhaupt keine Kommunikations-Hemmschwellen
gab, zu arbeiten und sich bei den Dreharbeiten mit ihnen
über ihre Sicht der Dinge zu unterhalten. Für mich ist dieser
?Tatort? schon ein kleiner Einführungskurs in die türkische
Welt ? eine Welt, die uns zum Greifen nah ist und doch
fremder nicht sein könnte.
Menschen mit Migrationshintergrund spielen in unserer
Gesellschaft eine immer wichtigere Rolle ?
? denn 4,5 Millionen Kinder und Jugendliche unter
20 Jahren, deren Eltern oder Großeltern eingewandert
sind,wachsen hier in Deutschland auf. In vielen Städten
wird es in Kürze mehr Kinder mit als ohne Migrationshintergrund
geben. Und laut einer neueren Studie haben
40 Prozent der Schulabgänger mit Migrationshintergrund
in Deutschland so schlechte Mathe-Kenntnisse, dass sie
in unserer Arbeitswelt keine Chance haben werden. Das
sind erschreckende Zahlen, aber wirklich ernst genommen
wird dieses Problem bei uns nicht.
NDR-Pressemappe
|