In Zeiten, in denen sich in den Medien die Meldungen von vernachlässigten, mißhandelten und getöteten Kindern regelrecht überschlagen, die Diskussionen um den Bildungsstandard in Deutschland und mäßige PISA-Studienergebnisse neu aufflammen, kommt ein TATORT aus München daher, der sich einem Thema widmet, das derzeit nicht gesellschaftsrelevanter sein könnte: den Kindern, dem Kapital unserer gemeinsamen Zukunft.
Wie schon im Oktober in der TATORT-Folge Unter uns hält uns auch dieser Krimi einen Spiegel vor: wie gehen wir eigentlich mit unseren Kindern und den Kindern unserer Kinder um? Antworten liefert der Film schon, aber Lösungen für die Misere vernachlässigter Kinder und überforderter (junger) Eltern hat auch er nicht parat. Kinder stehen derzeit nicht nur in den Medien leider viel zu oft in schlechten Nachrichten im Mittelpunkt - auch im TATORT oder gar beim "Bruder" Polizeiruf finden sich diese Themen zur besten Sendezeit immer öfter. Aus schlechtem Grund, will man meinen.
Leise Töne, bedrückende Bildsprache
Kleine Herzen erzählt die Geschichte von Anne Kempf, die mit 18 bereits Mutter des vierjährigen Sohnes Tim ist, mit ihm lebt sie allein. Für sie ist es nicht leicht, das Alltags-Chaos - ausgelöst durch unregelmäßige Arbeitszeiten, wenig Geld, die Verantwortung für ein aufgewecktes Kind und eine neue Romanze mit Hannes - in den Griff zu bekommen. Da muss der kleine Tim dann auch schon mal alleine bleiben.
Nur ein Setfoto: im Film treten Mutter, Sohn und Vater nicht gemeinsam auf; Bilder: BR/Avista Film/klick/Christian A.Rieger |
Klingt nicht schlimm, ist es aber. Denn mit einer ganz leisen Bildsprache entsteht beim Beobachten des Film ein spürbarer Druck beim Zuschauer, eine Identifikation, ein Antrieb, das vermeintliche "Unglück" abwenden zu wollen, ohne zu können. Spannung eben, wie sie in den Krimi gehören mag, aber doch ganz anders ist, als in anderen TATORT-Krimis. Der junge Tim in einem Zimmer eingeschlossen, sich nur von Bonbons ernährend, mit Schokoladenmund und dreckigen Fingern auf dem fremden Sofa schlafend oder "nur" vor dem Fernseher abgestellt, kann niemanden kalt lassen. Doch der Film impliziert eine Realität, in der es eben genauso abzulaufen scheint.
Fernab vom sonstigen Krimimainstream
Kleine Herzen ist ein wunderbarer TATORT; ein sehr ungewöhnlicher Krimi, fernab vom sonstigen Krimimainstream: keine öligen, neureichen Verdächtigen aus der Schickeria, keine Klischees und kein zwanghaftes Hervorbringen geeigneter Mordverdächtiger zum Aufrechterhalten der Spannung und Erfüllung der 90-Minuten-Vorgabe. Der Krimi aus München macht so gesehen eigentlich alles falsch: das Milieu ist ganz "normal", eine alleinerziehende Mutter und ihre Umgebung, wenig Geld, keine Kriminelle...keine klassischen Grundvoraussetzungen für einen Krimi am Ende des Wochenende.
Gastauftritt als Platzwart: Django Asül; Bilder: BR/Avista Film/klick/Christian A.Rieger |
Der Film zeigt zudem fast nur Szenen aus dem Alltag, nix aufregendes auf den ersten Blick: Busfahrten, Szenen bei der Arbeit im Supermarkt, in ganz "normalen" Familiensituationen, auf dem Sportplatz, auf der Straßenkreuzung oder abends im Cafe. Der Film zeigt zwar auch die Ermittlungen auf der Suche nach einer Person, der das Mädchen Katrin zu Tode brachte. Aber "Mörder" wäre schon das falsche Wort - denn auch hier unterscheidet sich der TATORT von seinen anderen zahlreichen Ausgaben.
Lügen und Ausflüchte
Ohne Hast und gemächlich ruhig wandeln die Kommissare erstmals ohne den von Bora Bora kurz grüßenden Kommissariatsmitarbeiter Carlo in einem überschaubaren Familienmilieu umher, stellen Fragen, beschäftigen sich mit jedem, hören hin, fragen nach. Es geht nicht um den "Mord", es geht um die Kinder. Die Handlung, der Plot, die Details der Kriminalgeschichte ist Nebensache. Die beiden Kommissare sind wohl die einzigen, die sich mit den "Kindern" dieser Folge beschäftigen: der 18-jährigen Anne, der Mutter des kleinen Tim. Und mit Marc, dem Vater des kleinen Tim und Bruder der toten Katrin, der nur Fußball und seine Zukunft im Blick hat - der sich um das Kind, seinen Sohn Tim, nicht kümmert und nur aus schlechtem Gewissen einen 50 Euro-Schein locker macht, und das nicht mal aus seinem Geldbeutel...
Batic und Leitmayr lassen sich nicht an der Nase herumführen, lassen sich gar nicht erst auf die Ausflüchte der überforderten Jugendlichen ein. Ausflüchte, welche die Jugendlichen schnell bei der Hand haben, und hoffen, dass sie auch bei Batic und Leitmayr wirken, so wie bei ihren Eltern und Freunden, ja sogar bei der Betreuerin vom Jugendamt. Ausflüchte und Lügen, die wie Leitmayr feststellt, auf den ersten Blick oft plausibel klingen und gegen die man im ersten Moment nicht viel sagen kann. Ausflüchte und Lügen, die ihr Leben und die Überforderung nicht allzu sehr offensichtlich machen, sie ihr Leben leben lassen, so wie sie es wollen. Dass die Überforderung doch sichtbar wird, ist für einen solchen Film nur logisch, macht ihn deswegen aber nicht gleich schlecht oder vorhersehbar. Hier wird der Krimi auf seine Art sogar amüsant. Wie gut, dass es Telefone gibt und Bayern3, den Radiosender aus München...Wenn es doch immer so einfach wäre!
Am Set: Udo Wachtveitl und Felix von Opel Bilder: BR/Avista Film/klick/Christian A.Rieger |
Ruhig ja, beruhigend nein
Kleine Herzen wird, obwohl es ein sehr ruhiger Film ist, wohl nicht beruhigen können, das darf er nicht. Klassische Musik, lange, ruhige Szenen, viel Schweigen zwischen den vielen Fragen der Kommissare dominieren die Szenen, öfter hört man den Wind oder einfache Schritte, das Telefon klingeln, das Radiogedudel: alles sehr nah und eindringlich. Vor allem aber: bis auf eine "Verfolgungsjagd", in der die fast väterlich gewordenen Kommissare Batic und Leitmayr ihre Kondition beweisen müssen, fehlt es dem Film wohltuend an Action - und Vorurteilen. Der TATORT verurteilt niemanden, klagt nicht an; er zeigt einfach nur wie sich die Dinge entwickeln können.
Spirale sich anhäufender Überforderungen
Es sollte keine Gesellschaftsanalyse werden, sagt die Drehbuchautorin Stefanie Kremser über Kleine Herzen. Sie habe versucht, eine Momentaufnahme der Spirale der sich anhäufenden Überforderungen zu rekonstruieren, der zwischen dem Druck der Verantwortung und dem Wunsch nach Sorglosigkeit ergibt. Ihre Hauptfigur, das Mädchen Anne, das mit 18 Jahren ein 4 Jahre alten Sohn erziehen muss und dabei kaum Unterstützung erfährt und folglich überfordert ist. Für Kremser offensichtlich hat der TATORT autobiographische Züge. Wie sie in der Presseinformation erklärt, hat sie dies alles selbst gesehen und miterlebt, als sie in Brasilien in einem Waisenhaus arbeitete - damals selbst noch ein Kind. Und Kremser zeichnet ihren Film und die Figur der Anne deshalb trotzdem nicht negativ. Es soll dem Zuschauer überlassen bleiben, sich das Schicksal von Anne auszumalen. Kremser selbst meint, die Chancen stehen dafür nicht so schlecht.
Wir werden sehen.
Francois Werner