Unheil nebenan
Der HR setzt mit seinen TATORT-Produktionen auch weiterhin Maßstäbe
Es ist heutzutage äußerst selten, dass einem als Zuschauer ein Fernsehfilm noch nach der Ausstrahlung für einige Zeit im Gedächtnis bleibt. "Unter uns", dem neuen TATORT aus Frankfurt am Main gelingt dies auf beeindruckende Weise. Man muss sich als Zuschauer mit der gezeigten Handlung auseinandersetzen - und gerade das macht ihn so stark. Zwar steuerte der Hessische Rundfunk in der jüngsten Vergangenheit ohne Frage beinahe ausnahmslos großartige und einzigartige Folgen zur TATORT-Reihe bei, doch der aktuelle Fall ist definitiv der bislang stärkste.
Bea und Ronja Kubitz ziehen in der selben Straße in der auch Sänger und Dellwo wohnen ein. Bild: HR/Bettina Müller |
Auseinandersetzung im Job-Center
Zu Beginn des Filmes sehen wir Kommissarin Charlotte Sänger (Andrea Sawatzki) bei Yoga-Übungen. Zeitgleich ziehen die alleinerziehende Mutter Bea Kubitz (Ulrike Krumbiegel) und ihre achtjährige Tochter Ronja (Charlotte Lüder) in Charlottes unmittelbare Nachbarschaft und entladen den Umzugswagen. Schnitt. Schon seit Stunden sitzt Wolfgang Kunert (Michael Brandner) im Job-Center Frankfurt/Main-West und wartet auf ein Gespräch mit seiner Arbeitsvermittlerin Heidi Ganz (Lena Stolze). Als Kunerts Nummer endlich aufgerufen wird, kommt es zwischen ihm und Heidi Ganz zu einer heftigen Auseinandersetzung, an deren Ende Kunert seine Arbeitsvermittlerin mit einer Pistole bedroht. Ein Kollege, der Heidi Ganz helfen möchte, wird von Kunert angeschossen und verblutet.
Charlotte befragt Ronja Kubitz. Was hat das Mädchen gesehen? Bild: HR/Bettina Müller |
Ein Film der starken Kontraste
Schon alleine dieser starke und kontrastreiche Auftakt macht den neuen Hessen-TATORT so sehenswert. Auf der einen Seite die Szenen in Charlottes Straße, die durch die musikalische Untermalung mit einer speziellen Version des Songs "(Sometimes I feel like a) Motherless child" auf gewisse Weise beruhigend wirken, auf der anderen Seite die bedrückende und aggressionsgeladene Atmosphäre im Arbeitsamt. Ohnehin ist "Unter uns" ein Film der starken und gelungenen Kontraste. Trotz aller Ernsthaftigkeit hält er auch die eine oder andere unterhaltsame und humorvolle Szene bereit - beispielsweise dann, wenn Dellwos und Sängers ehemals schwangere Kollegin Ina Springstub (Chrissy Schulz) ihren siebzehn Wochen alten Sohn Finn präsentiert, Staatsanwalt Dr. Scheer (Thomas Balou Martin) der Kripo-Mannschaft die von ihm bestellten Pizzen regelrecht aufdrängt oder die dickliche Imbissbudenbesitzerin Gerlinde Nickel (Traute Hoess) ihre Kunden mit wirklich guten Witzen versorgt.
Kunert und seine Frau im Palmenhaus. Bild: HR/Bettina Müller |
Ein dunkles Geheimnis in der Nachbarschaft
Doch weiter in der Handlung: Kunert flüchtet mit Heidi Ganz als Geisel aus dem Job-Center, Fritz Dellwo (Jörg Schüttauf) und Charlotte Sänger nehmen die Ermittlungen auf. Ihnen gelingt es schon nach kurzer Zeit, Wolfgang Kunert über sein Handy zu orten. Als sie an der besagten Stelle ankommen, finden sie jedoch nur noch Kunerts Auto und sein Handy. Kunert und seine Geisel sind spurlos verschwunden. Dellwo und Sänger stellen nähere Recherchen in Kunerts Umfeld an und erfahren dabei auch, dass er in Scheidung mit seiner Frau Karin (Franziska Walser) lebt. Währenddessen erkundet Ronja Kubitz neugierig ihre neue Straße. Auf der Suche nach anderen Kindern in ihrem Alter, mit denen sie spielen könnte, macht sie eine Beobachtung, die ihr jedoch niemand glauben will. Als der Fall Kunert stagniert, kümmert sich Charlotte um diesen Vorgang und stößt auf ein dunkles Geheimnis in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft...
Charlotte und Fritz nach den abschließenden Verhören. Bild: HR/Bettina Müller |
Ein wahres Meisterwerk
Den beiden TATORT-Neulingen Katrin Bühling (Buch) und Margarethe von Trotta (Regie) ist mit "Unter uns" ein wahres Meisterwerk gelungen. Jedes auch noch so kleines Detail stimmt,
die Handlung ist bis zur letzten Minute spannend und fesselnd gestaltet, Regie und Kamera überzeugen, die Besetzung brilliert bis in die Nebenrollen. Besondere Erwähnung verdienen die hervorragenden schauspielerischen Leistungen von Michael Brandner, Franziska Walser, Ulrike Krumbiegel und insbesondere Charlotte Lüder.
Fromm, Gröner und Dellwo im Kommissariat. Bild: HR/Bettina Müller |
Gelungenes Plädoyer für Zivilcourage
Die hr-Pressestelle schreibt über "Unter uns", dass der Film uns allen einen Spiegel vorhalte: "Wir alle leben nebeneinander her, ohne uns darum zu kümmern, was wirklich in unserer unmittelbaren Nachbarschaft geschieht." Insofern ist der Film auch ein gelungenes Plädoyer für Zivilcourage. Eigentlich sollte man nach diesem TATORT den Fernseher sofort ausschalten, sich Gedanken über das Gesehene machen und sich fragen, wie man in den im Film gezeigten Situationen selbst gehandelt hätte. Auch in dieser Hinsicht setzt der hr mit seinen TATORT-Produktionen also weiterhin Maßstäbe.
Ach ja: und sollte dieser TATORT in naher Zukunft nicht zumindest einen bedeutenden Fernsehpreis gewinnen, dann frisst der Autor dieser Rezension einen Besen. Ehrenwort.
Christian Rohm
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