Liebeshunger
Gespräch mit Thomas Bohn
?An den Figuren dranbleiben, um sie
schließlich fast schon riechen zu können?
Nach Ihrer erfolgreichen Zusammenarbeit mit Rafael Solá
Ferrer in ?Eine Frage des Gewissens? haben Sie nun erneut
mit ihm gearbeitet. Diesmal mit klarer Rollenverteilung:
Er schreibt, Sie inszenieren.Was schätzen Sie besonders an
seinem Drehbuch?
Die genauen Recherchen und den verblüffenden Schluss.
Der Film erzählt von einer nach außen hin wohlsituierten
Frau, die ihren Körper verkauft, um genau diese Fassade der
Wohlsituiertheit für sich und ihre Familie aufrecht erhalten
zu können. Ist Karin Freiberg für Sie eine tragische Figur?
Natürlich. Aber ich kenne letztendlich niemanden unter
meinen Mitmenschen, der nicht auch irgendwie tragisch
ist. Das ist wohl im Sinne des Erfinders. Rafael hat seine
Protagonistin allerdings mit besonders viel Tragik ausgestattet.
Die Reihenhaussiedlung der Freibergs ist so etwas wie
eine falsche heile Welt.Die Zeitlupenfahrt durch diese
trügerische Idylle zu Anfang des Films erinnert ? ebenso
wie das Drogenschnüffeln eines der Freier ? von fern an
?Blue Velvet?. Ist das eine zufällige Reminiszenz oder ist
Lynch tatsächlich so etwas wie ein Inspirator für Sie?
Das ist rein zufällig. Inspiriert werde ich in letzter Zeit eher
von meinen deutschen Kollegen.
In dem Apartmenthaus, in dem Karin Freiberg ihrer Arbeit
nachgeht, herrscht eine ausgeprägte Bigotterie. Die Frauen
rümpfen über die Prostituierten die Nase,während die
Männer ihre ungestillten Sehnsüchte auf sie projizieren.
Was genau geschieht da?
Das,was öfters in gemischt-geschlechtlichen Beziehungen
geschieht: Ein gravierendes Missverständnis der Bedürfnisse.
Gab es so etwas wie ein inszenatorisches Grundkonzept
und,wenn ja, wie würden Sie es beschreiben?
An den Figuren dranbleiben, um sie schließlich fast schon
riechen zu können. Dabei hat mir mein Kameramann
Clemens Messow sehr geholfen.
Auffällig ist ja zum Beispiel eine stark beobachtende Haltung.
Wenn, wie hier, sehr viele als Täter in Frage kommen,
darf sich keiner durch eine falsche Geste vorzeitig verraten.
Verstärken Sie diese Haltung inszenatorisch oder ergibt sie
sich aus der Handlung quasi von selbst?
Da habe ich sehr genau drauf achtgegeben. Und Rafael
auch.
Lassen Sie auch gelegentlich improvisieren oder legen Sie
eine Szene vorher genau fest?
Sowohl als auch.Kommt auf die Tagesform der Darsteller
und die Enge unseres Drehplans an.
Die Szene, in der Kowalski sich auf das Bett der Toten
legt, ist beispielsweise berührend in ihrer Zärtlichkeit und
zugleich beklemmend.Wie haben Sie die erarbeitet?
Ich habe ihn einfach machen lassen, gestaunt und sofort
gedreht.
In diesem Film wirken ? von der Ermittler-Truppe abgesehen
? viele weniger prominente Schauspieler mit, die
jedoch exzellente Leistungen zeigen.Wie würden Sie
Ihre Schauspielerführung charakterisieren?
Ich habe einfach eine sehr gute Casterin, die Esther Klostermann.
Da kommt von Anfang an nur das Allerfeinste auf
den Tisch. Der Rest ist Handwerk.
Der junge Sohn des Opfers spielt hier eine nicht ganz
unwichtige Rolle.Wie haben Sie den Jungdarsteller an die
Szene herangeführt, in der er seine Mutter auf dem Bett
findet? Oder haben Sie die Szene anders gelöst?
Patrick Dreikauss ist ein prima Jugendcoach und auf so
etwas spezialisiert. Ich habe mit ihm im Vorfeld sehr genau
über dieses Bild geredet und wir haben eine sehr direkte,
aber auch feinfühlige Art der Annäherung gewählt.
Der Film verdichtet sein Thema, indem er eine ganze
Reihe von ?Liebeshungrigen? zeigt, die alle versuchen,
ihre Sehnsucht zu stillen, aber letztlich eigentlich vor allem
einsam bleiben.
Glauben Sie, dass dieses Unglück und
diese Vereinzelung typisch sind für unsere heutige Gesellschaft?
Nein. Das wäre Klischee. Liebe ist immer einzigartig.
Und sie folgt auch keinen Gesetzen oder Trends. Gott sei
Dank nicht.
Interview: Birgit Schmitz (Quelle: NDR-Pressemappe)
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