?Es ist tatsächlich so, dass alle Leute auf
einen herunterschauen,wenn man im
Rollstuhl sitzt.Das war eine eindrucksvolle
und wichtige Erfahrung?
Joachim Freiberg ist seit einem Unfall querschnittsgelähmt
und lebt sehr zurückgezogen. Er hadertmit seinem
Schicksal.Was, glauben Sie, ist er vor dem Unfall für ein
Mensch gewesen?
Nun, er hat ja früher Autos verkauft. Das ist eine aggressive
Arbeit, bei der man mit den unterschiedlichsten Kunden
umgehen und ihnen Dinge schmackhaft machen muss.
Und Joachim Freiberg hat ja nicht irgendwelche Autos,
sondern Sportwagen verkauft, die er auch selbst gerne
gefahren ist. Er war ein sportlicher, erfolgreicher Typ, der
viel unterwegs war und dem es gefallen hat, wenn er
bewundert wurde. Und gut verdient hat er auch. Deshalb
hat er dieses Haus gekauft. Der Unfall hat sein Leben
komplett verändert, und alles,was ihn früher einmal ausgemacht
hat, ist ihm jetzt verwehrt. Da kann man seine
Verbitterung schon verstehen.
Der Unfall hat ihm ja auch innerfamiliär einen Rollenwechsel
aufgezwungen. Der frühere Großverdiener ist jetzt
der, der zu Hause bleibt ...
Ja, und die Tatsache, dass er sehr eingeschränkt ist und von
der Hilfe anderer abhängig,macht ihm die Sache doppelt
schwer.Viel machen kann er ja ohnehin nicht mehr, auch im
Haushalt wahrscheinlich nicht.
Karin Freiberg ist jetzt diejenige, die das Haus und die
Familie finanzieren muss. Deshalb ist sie Prostituierte
geworden. Ist das nicht eine unerträgliche Vorstellung
für einen Ehemann?
Nein, ich glaube sogar, dass sein Anteil an dieser Entscheidung
für die Prostitution relativ hoch war. Das Ganze
passiert ja nicht ohne sein Wissen. Er selbst kann nichts
mehr tun, aber er hat durchaus ein Interesse daran, dass
die Raten für das Haus bezahlt werden und der alte Lebensstandard
gehalten werden kann.Natürlich ist das auch
eine zusätzliche Demütigung für ihn, dass seine Frau sich
prostituiert, aber das nimmt er genauso in Kauf wie sie.
Freiberg wirkt insgesamt recht mutlos und resigniert.
Wie
findet man als Schauspieler Zugang zu so einer Figur?
Ich habe versucht, mich in die Situation hineinzuversetzen,
in der sich Freiberg nach dem Unfall befindet, und kann
mir sehr gut vorstellen, dass er dabei lieber ums Leben
gekommen wäre. Erst der Aktive, der Macher, und jetzt ?
so empfindet er es ? eine Belastung für alle. Das sind
keine Umstände, die Lebensfreude aufkommen lassen.
Klar kommt da bei ihm noch eine gehörige Portion Selbstmitleid
und Sarkasmus dazu.
Ich habe mir zur Vorbereitung des Films einen Rollstuhl
besorgt und bin hier in Berlin damit herumgefahren, um
zu sehen, wie das ist.Wenn man dann durch den Park rollt
und Omas mit Gehhilfen trifft, die einen mitleidig ansehen,
dann ist das schon eine seltsame Erfahrung. Bedrückend.
Da wäre ich am liebsten sofort aufgesprungen, um zu
demonstrieren, dass ich doch laufen kann.
Was den Omas sicher gefallen hätte, denn dann hätten sie
sich wie Wunderheilerinnen fühlen dürfen ...
(Lacht) Ja, das wäre lustig gewesen. Aber es ist tatsächlich
so, dass alle Leute auf einen herunterschauen,wenn man
im Rollstuhl sitzt. Das war eine eindrucksvolle und wichtige
Erfahrung. Und man stößt ständig an die Grenzen seiner
Möglichkeiten; da wird schon jede Bordsteinkante zum
Problem, und immer ist man auf Hilfe angewiesen.
Die Ehe der Freibergs ist eine Zweckgemeinschaft. Sie
wollen ihrem Sohn ein stabiles Elternhaus bieten, aber
emotional verbindet sie nicht mehr viel.Wie finden Sie
dieses Lebenskonzept? Ist das überhaupt lebbar?
Ich hab das etwas anders gesehen. In meinen Augen haben
die beiden Eheleute schon noch eine enge Bindung. Sonst
würde die Frau das alles gar nicht tun. Sie versucht ja auch,
ihm ein gutes Leben zu ermöglichen, und das tut sie,weil
er ihr keineswegs egal ist.Vielleicht ist die Bindung nicht
mehr ganz so tief, und er spürt auch, dass sie teilweise aus
Mitleid handelt, aber da schwingen auf jeden Fall noch eine
Menge Gefühle mit. Sicherlich ist es aber so, dass die Harmonie,
die dort herrscht, eine trügerische ist. Ich kann mir
vorstellen, dass Joachim Freiberg es nicht ewig ausgehalten
hätte, dass sich der Frust, der sich in ihm aufgestaut hat,
irgendwann in irgendeiner Form entladen hätte.
Die Situation in diesem Haus hat ja auch etwas Beklemmendes
und Bedrückendes; es wird vieles nicht offen
ausgesprochen ...
Ja, und Joachim Freiberg hat nun, nach dem Tod seiner
Frau, das Problem, dass er seinem Sohn erzählen muss,
auf welche Weise und warum sie so Geld verdienen musste.
Dazu kommt der Zeitdruck, mit ihm reden zu müssen,
bevor es die Polizei tut ... Er versucht es, kann es aber nicht,
scheitert erneut an sich selbst.
Zwischen Kommissar Casstorff und Joachim Freiberg gibt
es untergründige Spannungen; er mag es offenbar nicht,
wenn man ihm Fragen über seine persönliche Situation
stellt ...
Joachim Freiberg gibt sich natürlich eine Mitschuld am Tod
seiner Frau.Die bohrenden Fragen des Kommissars sind ihm
deshalb sehr unangenehm, weil sie ihn in diesem Schuldgefühl
bestätigen. Dazu kommt natürlich, dass er sich vor
dem anderen Mann schämt, eingestehen zu müssen, dass
er seine Frau so hat durch die Welt gehen lassen. Dass er
das alles zugelassen hat, weil er glaubte, keine andere
Wahl zu haben. Und dann, stellen Sie sich diese Gesprächssituation
vor: Da stapft jemand auf zwei Beinen durch sein
Wohnzimmer, durch das er selbst nur rollen kann, stellt ihm
unangenehme, bohrende Fragen, kann sein Urteil über ihn
kaum verbergen und baut auch noch eine Beziehung zu
seinem Sohn auf. Da spielt dann plötzlich Eifersucht eine
Rolle, ganz unabhängig davon, ob er nun von der alten
Affäre zwischen Casstorff und seiner Frau weiß oder nicht.
Wir waren eben schon darauf zu sprechen gekommen,
dass im Hause Freiberg die Probleme nicht beim Namen
genannt werden. Glauben Sie, dass diese Haltung der
Verschlossenheit, die ja eine Hilflosigkeit ausdrückt,
letztlich auch zu dem tragischen Ende der Mutter beiträgt,
zu dieser hilflosen Geste, zu welcher der Sohn am Bett
der Mutter greift?
Ich sehe diese Geste ganz im Gegenteil eher als einen
hilflosen, fürsorglichen Liebesakt. Er möchte seine Mutter
nicht so sehen, und indem er die Decke über sie breitet,
zeigt Felix, dass sie etwas Wichtiges und Wertvolles für ihn
ist, das er schützen möchte. So wie er es mit seiner Geige
macht, die ihm wichtig ist, weil sie ihm einen Freiraum in
dieser Familie eröffnet. Er kann sich mit ihr zurück ziehen
in seine eigene Welt.
Natürlich hat diese Geste des Zudeckens auch etwas
Hilfloses, aber sie ist in erster Linie liebevoll gemeint. Zudem
glaube ich auch nicht, dass in Felix?Elternhaus so
eine große Sprachlosigkeit herrschte; zwischen den Eltern
bestimmt nicht. Aber es gibt eben dieses Geheimnis der
Prostitution, über das nicht gesprochen wird.
Freiberg ist nach dem Tod seiner Frau ganz auf sich gestellt
? und er muss jetzt alleine für den Jungen da sein. Glauben
Sie, dass es ihm gelingen wird, noch mal aus seiner Resignation
zu erwachen und Verantwortung zu übernehmen?
Grundsätzlich bin ich davon überzeugt, dass das jeder kann.
Bis Freiberg das kann, muss auf jeden Fall Zeit vergehen.
Kaum hat er vom Tod seiner Frau erfahren, wird er auch
noch damit konfrontiert, dass sein Sohn mit dieser Sache zu
tun hat. Man würde zu viel von ihm verlangen,wenn man
erwartete, dass er sofort aktiv wird. Er hat eine Menge zu
verarbeiten; das geht nicht von heute auf morgen, aber
vielleicht mobilisiert gerade die Tatsache, dass sein Sohn
jetzt in diese Notlage gerät, sein Verantwortungsbewusstsein.
Es ist auf jeden Fall schrecklich für ihn, zu sehen, wie
sein Sohn abgeführt wird. Denn Felix ist doch alles,was
ihm geblieben ist.
Sie haben schon mehrfach mit Thomas Bohn gearbeitet,
zuletzt in ?Eine Frage des Gewissens?.Was schätzen Sie an
seiner Arbeitsweise?
Oh, da gibt es verschiedene Dinge, die ich sehr schätze.
Zum einen ist es wunderbar, mit ihm zu arbeiten, weil er
immer ganz genau weiß,was er von den einzelnen Figuren
möchte, und er kann das auch sehr gut vermitteln. Zum
anderen versteht er es, ein tolles Arbeitsklima herzustellen.
Er schafft einen magischen Raum,in dem alle, die an dem
Film mitwirken, ihr bestes geben und dem Ergebnis zuarbeiten.
Das gibt einem das Gefühl, sehr gut aufgehoben
zu sein.Außerdem finde ich es enorm mutig, an welche
Themen Tom Bohn sich heranwagt. Das bewundere ich.
Er stellt sich den Themen unserer Zeit; auch in diesem Film.
Interview: Birgit Schmitz (Quelle: NDR-Pressemappe)