?Casstorff musste noch nie einen Fall so
nah bei sich selbst, quasi in seiner nächsten
Umgebung, recherchieren und aufklären?
?Liebeshunger? erzählt von liebeshungrigen Männern
und von einer Ehefrau und Mutter, die der Prostitution
nachgeht.Was sind in Ihren Augen die Qualitäten des
Drehbuchs?
Wir haben hier einen berührenden Tatort, ohne viel Action,
der verschiedene Facetten der Liebe beschreibt. Rafael Solá
Ferrer erzählt nicht aus einer voyeuristischen, sensationslüsternen
Perspektive, sondern er beschreibt ganz subtil
die unterschiedlichen Befindlichkeiten der handelnden
Personen. Die Kernfrage gipfelt in der Formulierung des
Ehemanns von Karin Freiberg an Casstorff:Was ist Liebe ...
wissen Sie?s?
Autor und Regisseur verstehen es,den Zuschauer mehrfach
zu verblüffen. Diesmal erwischt es auch Casstorff im
wahrsten Sinne des Wortes kalt.Während die Kollegen
dabeistehen, wird plötzlich klar, dass der Kommissar die
tote Prostituierte gekannt haben muss.Wie war diese
Szene für Sie?
Da muss man unterscheiden: Als Schauspieler fand ich diese
Szene natürlich wunderbar,weil sie mir die Möglichkeit
gibt, mehr von Casstorffs innerem Zustand zu zeigen; für
Casstorff selbst ist diese Entdeckung natürlich fürchterlich,
weil er noch nie einen Fall so nah bei sich selbst, quasi in
seiner nächsten Umgebung, recherchieren und aufklären
musste.
Eine geliebte Person in dieser Verfassung wiederzusehen
trifft jeden hart, auch wenn die gemeinsame Geschichte
lange her ist. Casstorff ist sichtlich schockiert.Warum
denkt er nicht daran, den Fall abzugeben? Ist er nicht befangen?
Natürlich ist er befangen, aber das motiviert ihn erst recht,
die Hintergründe dieser Tat zu enträtseln. Das würde er
keinem Kollegen überlassen wollen.
Ausgerechnet Wanda Wilhelmi ist diejenige, die seine
Nummer im Handy der Toten findet. Sie reagiert erstaunlich
wenig emotional. Ist das reine Professionalität oder
vertraut sie Casstorff bereits so fest, dass er für sie über
jeden Zweifel erhaben ist?
Die beiden kennen sich erst relativ kurze Zeit, sind hoch
verliebt ineinander, so dass bei Wanda keine Eifersucht
aufkommen kann. Schließlich sind beide nicht mehr 15;
sie wissen also, dass jeder von ihnen mit einer gewissen
Biografie in diese neue Beziehung einsteigt. Bei Wanda
greift höchstens eine professionelle Neugier.
Anders als sonst ist der Kommissar während der Ermittlungsarbeit
immer auch persönlich betroffen. Er befragt
den Ehemann der Frau, mit der er vor Jahren eine Affäre
hatte; er durchsucht ihre persönliche Sachen usw.Wie
erlebt er diese Situationen?
Die ganze Affäre steht plötzlich wieder vor seinen Augen;
die schönen Erinnerungen tauchen auf,genau wie das
unbefriedigende Ende nach überraschend kurzer Zeit. Er
merkt, wie belastend und unverständlich Karin Freibergs
Ausstieg damals für ihn war ? und er registriert, dass er
alles mehr oder weniger verdrängt hat, die Verletzung von
damals ist noch da ...
Während der zurückliegenden Affäre hat Karin Freiberg
ihm nichts oder nur sehr wenig über sich erzählt.Was,
glauben Sie, hat er sich vorgestellt,wer sie ist? Lernt er sie
jetzt völlig neu kennen?
Ich gehe mal davon aus, dass er sich überhaupt nicht viel
vorgestellt hat; es war einfach schön für ihn und er hat
die Zeit genossen.Wie er selbst sagt: Ich war froh, dass
sie nicht nach meiner privaten Situation gefragt hat.
Beide waren wohl in so einer Art ?siebtem Himmel?, und
da fragt man nicht nach den profanen Dingen des Lebens.
Dafür bleibt später noch Zeit genug. Dass es zu diesem
?später? nicht mehr kommen sollte, konnte er nicht
voraussehen.
Casstorff reagiert recht kritisch auf den Ehemann seiner
ehemaligen Geliebten. Unterstellt er ihm eine Mitschuld
am Geschehen?
Absolut. Die Tatsache, dass Karin Freiberg als Prostituierte
gearbeitet hat bzw. aus finanziellen Gründen diese Tätigkeit
ausüben musste, wühlt Casstorff zutiefst auf.Natürlich
hat der Ehemann seinen Anteil daran. Schließlich hat er
diese Form der Arbeit vorgeschlagen; das macht ihn mitschuldig
an der Situation.
Auch der Umgang mit den Zuhältern, mit denen Casstorff
einen Deal macht, zeigt, dass er mit dem Herzen dabei ist.
Oder käme er sonst wohl auf die Idee, die Wilhelmi hinters
Licht zu führen? Er und Holicek flunkern ihr vor, es läge eine
Aussage gegen die beiden vor ...
Mit den Zuhältern einen Deal zu machen, widerspricht dem
Wesen von Casstorff total, aber ich denke, er sieht zu dem
Zeitpunkt keine andere Möglichkeit, die Zahl der Verdächtigen
weiter einzukreisen. Er kann nicht 6000 Prostituierte
befragen, und die Zeit drängt; insofern ist ihm jedes Mittel
recht, sogar eine Notlüge, um weiterzukommen.
Als Felix Freiberg seine Mutter gefesselt und geknebelt
auf einem Bett findet, reagiert er auf fatale
Weise falsch. Sicher keine einfache Rolle für den
Jungdarsteller.Wie haben Sie die Zusammenarbeit
mit ihm empfunden?
Die Zusammenarbeit war schön und unkompliziert. Ich
hatte drei Szenen mit diesem talentierten, sehr gut ausgewählten
Jungen; mir war dabei von vornherein klar,
dass diese Thematik für ihn mit seinen 13 Jahren ziemlich
problematisch gewesen sein muss. Jedoch genau diese
Vielschichtigkeit in der Problemstellung gab ihm genau
die richtige Mischung aus Unschuld,Unwissenheit und
Fassungslosigkeit.
Verspürt Jan Casstorff eine besondere Verantwortung
gegenüber diesem Kind?
Casstorff liebt Kinder und Jugendliche; er weiß aus seiner
eigenen Geschichte mit seinem Sohn eine Menge über
den Umgang mit jungen Menschen, und natürlich möchte
er nicht, dass der Junge durch diese schreckliche Erfahrung
für sein Leben gezeichnet sein wird. Also setzt er sich besonders
behutsam mit ihm auseinander.
Kommissar Casstorff und Wanda Wilhelmi wirken glücklich
und entspannt miteinander. Sind die beiden jetzt ein ganz
normales festes Paar? Wie geht es weiter mit den beiden?
Sie erwarten doch nicht wirklich, dass ich Ihnen darauf
eine Antwort gebe?! Natürlich wird der Fortgang dieser
brisanten Beziehung nicht verraten ? ich kann die Frage
höchstens an die Autoren weiterreichen ? wer allerdings
den nächsten Tatort schreiben wird ? wer weiß ...?
Interview: Birgit Schmitz (Quelle: NDR-Pressemappe)